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Musiktherapie: Boom oder Buh

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Der Hannoveraner Musikpsychologe und Musikwissenschaftler Klaus-Ernst Behne beobachtet das Treiben der Musiktherapeuten distanziert. Er wirft den Musiktherapeuten vor, mit falscher Münze zu arbeiten. „Was die Häufigkeit erfolgreicher musiktherapeutischer Heilungsprozesse angeht, so ist eine zurückhaltende Einschätzung angebracht. Heilerfolge der Musiktherapie sind im allgemeinen schlecht dokumentiert, verbleiben oft im Anekdotischen oder kommen über die Anhäufung von Fallbeispielen nicht hinaus. Da die Fallbeispiele im allgemeinen von den Therapeuten selbst verfasst werden, ist es naheliegend, dass sie die Erfolge ihrer eigenen therapeutischen Tätigkeit nicht immer objektiv darstellen. Die weitgehende Rückführung musiktherapeutischer Heilerfolge auf Placebo-Effekte ist aus heutiger Sicht die naheliegendste Erklärung.“

Musiktherapie, das war zu meiner Studienzeit ein Zauberwort. Viele Erstsemester-Studenten der Musikwissenschaft gaben zu, dass sie Musikwissenschaft nur als Parkstudium ansähen. In Wirklichkeit wollten sie Musiktherapie erlernen. Bei den wenigen Einrichtungen dieser Art in Deutschland, die ein Studium anboten, war es aber gar nicht einfach, einen entsprechenden Studienplatz zu ergattern. Damit sorgte diese Studienplatzknappheit für eine gewisse Exklusivität des Faches. Ein weiterer Faktor war sicherlich auch der allgemeine „Psychoboom“ der 70er- und 80er-Jahre. Seit dieser Zeit ranken sich Gerüchte um die therapeutischen Erfolge dieser Disziplin. Der Hannoveraner Musikpsychologe und Musikwissenschaftler Klaus-Ernst Behne beobachtet das Treiben der Musiktherapeuten distanziert. Er wirft den Musiktherapeuten vor, mit falscher Münze zu arbeiten. „Was die Häufigkeit erfolgreicher musiktherapeutischer Heilungsprozesse angeht, so ist eine zurückhaltende Einschätzung angebracht. Heilerfolge der Musiktherapie sind im allgemeinen schlecht dokumentiert, verbleiben oft im Anekdotischen oder kommen über die Anhäufung von Fallbeispielen nicht hinaus. Da die Fallbeispiele im allgemeinen von den Therapeuten selbst verfasst werden, ist es naheliegend, dass sie die Erfolge ihrer eigenen therapeutischen Tätigkeit nicht immer objektiv darstellen. Die weitgehende Rückführung musiktherapeutischer Heilerfolge auf Placebo-Effekte ist aus heutiger Sicht die naheliegendste Erklärung.“ Fehlende wissenschaftliche Untermauerung ihrer Arbeit, Ausnutzung gewisser gruppendynamischer Prozesse zwischen Therapeut und Patient und vor allem auch die Propagierung ihrer Tätigkeit mit pseudowissenschaftlichen Argumenten, dies alles führt Behne gegen ein seliges Vertrauen auf diese „Wissenschaft“ an.

In einem viel tiefer gehenden Sinn „heilende“ Wirkungen von Musik findet man allerdings im medizinischen Bereich und bei Beobachtungen von neurologischen Störungen. Der bekannte Neurologe Oliver Sacks berichtete aus seiner praktischen Tätigkeit folgendes: „Die Macht der Musik, Erzählungen und Schauspielen ist von größter theoretischer und praktischer Bedeutung. Dies lässt sich selbst bei geistig Schwerbehinderten mit einem IQ von unter 20 beobachten, die motorisch extrem beeinträchtigt und verwirrt sind. Mit Musik oder Tanz verschwinden ihre ungeschlachten Bewegungen von einem Augenblick auf den anderen – plötzlich wissen sie, wie man sich bewegt. Man kann sehen, wie Retardierte, die nicht in der Lage sind, recht einfache Arbeiten auszuführen, sobald diese vier, fünf Bewegungen oder Abläufe erfordern, mit Musik ohne Schwierigkeiten arbeiten können ... Dies ist zweifellos der Grund, oder einer der Gründe, für Arbeitslieder.“

Man sollte diese Beobachtungen wörtlich nehmen. Musik in ihren vielen Erscheinungsformen kann eine sozialpolitische Krücke sein. Das heißt sie lässt unser Leben besser funktionieren. Insofern befinden wir uns hier in einer großen gesellschaftlichen Musiktherapie.

Aus dem Gesagten dürfte deutlich geworden sein, dass man besser in Versuche einer Anti-Musiktherapie investieren sollte. Diese Anti-Therapie hätte zuallerst der Frage nachzugehen, wie man sich gegen die schleichende Beeinflussung von Musik schützt. Der Anti-Therapeut wäre ferner ein Erzieher in Sachen ästhetischer Rationalität, der bewusst zu machen hätte, welche ästhetische Bedeutung der Musik zukommt. Musik wäre dann endlich wieder befreit für das, was sie sein könnte: Ein kreativer Prozess, der die Sinnlichkeit der Menschen herausfordert. Musik missbrauchte man dann nicht für die Therapie, sie wäre selbst Therapie.

Als Real-Audio unter www.nmz.de/taktlos/

 

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