„Dass die vorgegebene Sprache der Musik Reflexion erheische, problematisch geworden sei, meint etwas sehr Triftiges, keineswegs bloß, dass etwa die traditionelle Tonalität aus der Mode gekommen wäre und dass, wer sich für up to date hält, sich geniere, mit jenen Mitteln zu komponieren. Sondern sie sind objektiv falsch geworden. Man kann von dem Bewusstseinsstand der Epoche nicht absehen.“
Derartige Sätze kennt man doch. Richtig, Adorno heißt der Autor. Lange ist’s her, dass solche sorgfältig gedrechselten Aussagen ehrfürchtig als Lehrsätze zitiert wurden. Wenn man sie heute liest, so fühlt man sich zugleich irritiert und animiert: irritiert über die eitle Umständlichkeit, mit der der Autor einfache Sachverhalte in komplizierte Satzperioden zu kleiden verstand, und animiert zu einem Spiel, das dem Ostereiersuchen im Garten gleicht. Denn wer sich durch die kunstvoll angelegten grammatikalischen Hecken und Wortgebüsche durchgearbeitet hat, wird mit einem stattlichen Ertrag an hartgekochten Wahrheiten belohnt.
Adornos apodiktisch vorgetragene Leitidee vom „historischen Materialstand“, an dem sich eine Komposition zu orientieren habe, wolle sie nicht schon zum Zeitpunkt ihres Entstehens als überholt gelten, hat inzwischen einiges von ihrem Glanz eingebüsst. Auch die mutigsten Apologeten glauben wohl nicht mehr so recht an dieses Fortschrittsparadigma, das zwei Jahrzehnte lang das Komponieren vor allem in Deutschland in eine Richtung kanalisierte. Dass man vom Bewusstseinsstand einer Epoche nicht absehen könne, ist inzwischen weitgehend zum Gemeinplatz geworden. Nicht zuletzt dank Adorno, der auf diesem Gedanken wohl deshalb so insistierte, weil er für seine Zeit, die fünfziger und sechziger Jahre, noch alles andere als selbstverständlich war.
Ein seltsam ambivalentes Gefühl beschleicht den Leser, wenn er die einst kanonischen Schriften wieder zur Hand nimmt. Einerseits fühlt er sich alle paar Sätze zum Ausruf: „Ja genau! So ist es!“ verleitet, er freut sich an der Unnachgiebigkeit, mit der ein humanistischer Kulturbegriff als radikale Negation des herrschenden Kulturbetriebs ins Feld geführt wird. Hier ist Adorno ungebrochen aktuell, denn die Realität hat seine schlimmsten Befürchtungen übertroffen.
Doch dann gibt es andererseits diesen eigentümlichen Tonfall. Da spricht einer, der keine Fragen stellt, weil er alles weiß: Wie die Komponisten schreiben sollen, wie die Welt ist und wie sie sein sollte. Und er weiß, dass er das weiß. Aus dieser Selbstgewissheit heraus verteilt er ringsum seine ideologischen Maulschellen: an die dumpfen Reaktionäre, an die hinterhältigen Pluralisten, an die Leute, die der modernen Musik gegenüber „für aufgeschlossen sich halten“ und an die anonyme Farmersfrau im mittleren Westen, die im Radio Klassik hört. Sie alle sind zu bekämpfen, weil sie das falsche Bewusstsein haben.
Und der Oberwatschenmann ist Sibelius, der unablässig und meist im Vorbeigehen als hoffnungsloser Dilettant niedergemacht wird. Das könnte den komischen Effekt eines Running-Gag haben, wirkt bei dem gehässigen Unterton aber wie der Tick eines Sektenpredigers.
Derlei kam seinerzeit bei Gleichgesinnten an, stieß außerhalb des Elfenbeinturms aber auf wenig Gegenliebe. Potenzielle Sympathisanten wurden mehr verschreckt als überzeugt. Liest man diese Texte heute, so scheint es, als errichte hier ein Autor um der reinen Lehre willen einen Stacheldrahtzaun um seine Erkenntnisse, damit sie ja nicht in die Hände Unbefugter gerieten.
Das Reden über die neue Musik, ob in kritischer oder bloß beschreibender Weise, gebärdet sich heute nicht mehr so rechthaberisch. Wer sich ans Publikum wendet, will ihm nicht mehr zuallererst seine Inkompetenz nachweisen, sondern versucht ihm entgegen zu kommen – es da abzuholen, wo es intellektuell und mentalitätsmäßig steht.
Die verbalen Vermittler sind vom hohen Ross der Allwissenheit herabgestiegen. Man ist realistischer geworden, auch bescheidener, was die Möglichkeiten und Ziele aufklärerischer Bemühungen angeht. Der Weltgeist wird nicht mehr als Ganzes, das das Unwahre ist, dem Publikum um die Ohren geschlagen; man verbucht schon als Erfolg, wenn ein einzelner Gedanke auf fruchtbaren Boden fällt und der keineswegs so unbedarfte „Rezipient“ einem seine Aufmerksamkeit schenkt.
Es geht ja nicht um theoretisches Missionieren, sondern um ganz reale Dinge: Die Menschen, die empfänglich sind, dazu zu bringen, ihr Hörbewusstsein zu entwickeln und ins Konzert zu gehen. Hier spielt sich heute und morgen die entscheidende Vermittlungsarbeit ab. Bleibt sie aus, werden in zwanzig Jahren die Türen der Konzertsäle dicht gemacht, weil niemand mehr hingeht.
Das klingt pragmatisch und ist es auch. Adorno hätte darin wohl nichts als blinde Macherideologie gesehen und es mit spitzen Fingern beiseite gewischt. Gibt es doch kein richtiges Leben im falschen...
Doch vielleicht hat er am Ende sogar recht? Dann wäre es umso notwendiger, das zu tun, was als richtig erscheint. Geht es heute doch nicht mehr darum, wortreich theoretische Aporien zu beklagen, sondern die realen Widersprüche auszuhalten, indem man handelt.