Es war schon recht zynisch, wie BR-Intendant Thomas Gruber die Auflösung des Münchner Rundfunkorchesters bis zum Jahr 2006 verbal abfederte. Seine Sorge gehöre dem Schicksal der 71 Musiker, man werde Lösungen, sozialverträglich wird häufig ergänzt, finden. Natürlich gehört auch unsere Solidarität diesen Musikern, aber es geht um mehr. Es geht darum, dass fruchtbare Arbeit (kaum ein Orchester war in München so innovativ und dabei auch erfolgreich wie eben das Rundfunkorchester) in der ARD nicht mehr zählt, dass Kreativität und geistige Beweglichkeit keine Rolle spielen. Es geht um die permanent anwachsende, von eigenen, inneren Mechanismen erzwungene Lustlosigkeit in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten.
Der Bayerische Rundfunk hat mit dieser Aktion ein Zeichen gesetzt, das sicher gerne anderswo aufgenommen wird. Und damit setzt sich ein Verfall der Rundfunklandschaft fort, der sich seit mehr als einem Vierteljahrhundert immer mehr bemerkbar macht. Die Redakteure, es sind fraglos einige der fähigsten Köpfe der deutschen Kulturszene darunter, werden mutlos gemacht; wer um das kämpft, was ihm am Herzen liegt (anderswo wäre dies ein oberstes Qualitätskriterium), wird zumindest abmahnend zur stillschweigenden Solidarität mit der Anstalt und ihren Erfordernissen aufgefordert. Innovative Ideen, die für ein neues Selbstverständnis der öffentlich-rechtlichen Medien sorgen könnten, werden den so genannten drückenden Erfordernissen des Tages geopfert. Das Bewusstsein, einfach nur noch Dienst nach Vorschrift zu machen, gedeiht unter solchen Bedingungen prächtig.
Nur wenige künstlerische Medien waren im 20. Jahrhundert so experimentell und erfindungsreich wie der Rundfunk. Schon in den 20er-Jahren debattierte man über die neuen Vermittlungsformen und über deren ästhetische Auswirkungen. Neue Formen von Mittel- und Unmittelbarkeiten entstanden und flossen in die Darbietungsarten ein. Nach dem zweiten Weltkrieg und den fatalen Erfahrungen mit dem Medium des Funks (das sich eben auch zu massenhafter Verschleierung oder Verdrehung von Wahrheit eignet) waren es wiederum an vorderer Stelle die Rundfunkanstalten, die ihre Funktion kritisch überdachten und sich als Medium der Aufklärung definierten. „Seid Sand und nicht Öl im Getriebe der Menschheit”, forderte damals Günther Eich und der Rundfunk beherzigte diese Aufforderung. Man sah sich als Anwalt des zeitgenössischen Kunst-Denkens und der aus allen Richtungen kommenden kritischen Befragungen der Gesellschaft. In diesen Zeiten konnten die Redakteure mit gutem Gewissen für das einstehen, was sie taten; sie hielten eigene Positionen nicht hinterm Berg, sondern suchten die offene und scharfe Debatte. In diesen Zeiten entstand ein ausgeprägtes Selbstverständnis der Rundfunkanstalten.
War das elitär? Wohl kaum, denn der Rundfunk rechnete mit einem mündigen oder zumindest mit einem zur Mündigkeit fähigen Bürger. Und er stellte sich ihm. Im Grunde ist es weit elitärer, wenn, wie es heute geschieht, auf den angeblichen Geschmack der Massen rekurriert wird. Der Rundfunk ist Fütterungsanstalt von Millionen von gleichgedachten Ohren und Hirnen. Er ist Betreuer wie in einem Sanatorium, in dem den Kranken das nötigste zugebilligt und Kontakt zu ihnen möglichst vermieden wird (auch, dies am Rande, die vielen Talkshows im Fernsehen mit ihren inszenierten Problemdebatten stellen ja nur Scheinkontakte zum Rezipienten her). Das Selbstverständnis ist zur Quotenzählerei geschrumpft. Und das ist ein trauriger Zustand. Der Rundfunk fordert den Hörer nicht mehr (außer Gebühren von ihm). Man passt sich den Hörgewohnheiten des Zielpublikums an, anstatt dass man für sich in Anspruch nimmt, die Hörgewohnheiten zu ändern, zu modifizieren, voranzubringen. Längst liegen die öffentlichen Sendeanstalten auf der Schlachtbank von Entertainment-Strukturen, die die Preise bestimmen und das Heft des Handelns in der Hand halten; die letztlich nur in Schnellverwertung und Abschlaffung treiben (was kosteten etwa 1954 die Übertragungsrechte des „Wunders von Bern” im Gegensatz zur jämmerlichen Europameisterschaft fünfzig Jahre später?) Um dem zu entkommen bräuchte es Ideen in offene, nicht Knebelstrukturen, die vom angeblichen Druck der Masse erzeugt werden. Wer immer nur von erzwungenen Streichungen spricht, hier reduziert, dort wegschneidet, der schafft ein Klima des Verfalls.
Wer wirklich nach vorne denkt, für den müssen Dinge wie Orchesterstreichungen durchaus kein Tabu sein, denn die Landschaft ändert sich. Aber er müsste sich überlegen, ob nicht die Schaffung etwa eines ARD-eigenen Ensembles für Neue oder Alte Musik, einer Formation für experimentellen Jazz und vieles mehr längst an der Tagesordnung wäre: Musikgruppen, die befruchtend in Hörspielproduktionen oder andere kulturelle und wissenschaftliche Beiträge einzubinden wären und radikal neue Formen der Vermittlung schaffen könnten (nicht die Formationen müssen erhalten und verwaltet werden, musikalische Betätigung gilt es zu erhalten und auszubauen). So aber wird das kulturelle Eigenverständnis immer weiter beschnitten und in die Enge gedrängt, ohne dass Türen in neue Richtungen geöffnet werden. Kafkas Parabel fällt ein: Die einen Gang entlanglaufende Maus klagt, dass die Mauern immer enger aneinander rücken. Bald schon gebe es für sie kein Durchkommen mehr. Die Katze entgegnet ihr, sie hätte nur die Laufrichtung ändern müssen. Und dann fraß sie die Maus. Ist es die ARD-Maus, die von der Quoten-Katze verschluckt wird?