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Nachschlag 2011/11

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Speakers’ Corner
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Bei den diesjährigen Donaueschinger Musiktagen stellte die Gesellschaft für Neue Musik (GNM) die Frage „Neue Musik wozu?“. Die auf Donaueschinger Plätzen gehaltenen Plädoyers, Statements und Mini-Manifeste finden Sie in Kürze unter www.nmz.de. Hier eine Intervention von Patrick Hahn:

„Wozu Neue Musik?“ Wer so eine Frage stellt, dem wäre zunächst die Frage zu stellen, ob und wie sich diese Frage unterscheidet von der Frage: „Wozu Musik?“ Wer diese Frage stellt, stellt wiederum auch die Frage: „Wozu Seele, Wozu Liebe, Wozu Gewissen, Wozu Mensch?“ Wer auf die Frage „Wozu Musik?“ keine Antwort mehr kennt, der ist zu beglückwünschen, denn er ist auf dem besten Weg, einen wertvollen Beitrag zur demographischen Entwicklung zu leisten, denn wer keine Antwort mehr in sich spürt auf die Frage, „Wozu Musik?“, ist auf dem besten Weg, sich einsargen zu lassen.

Dass sich die Frage „Wozu Neue Musik?“ nur um ein Wort und scheinbar doch so sehr von der Frage „Wozu Musik“ unterscheidet, ist nicht zuletzt jenen zuzuschreiben, die selbst gern Neue Musik machen. Sie schaffen aus einer permanenten Behauptung des Ausnahmezustands heraus. Sie müssen es, denn um das Attribut „neu“ zu erwerben – und es will offenbar immer noch immer neu errungen sein – sind sie gezwungen, den Normalfall absichtlich zu unterbrechen. Die Ökonomie des Neuen schreit permanent nach dem Anderen, das sie ihrem gefräßigen Archiv einverleiben will, um die Illusion der Abbildbarkeit von „Welt“ zu erzeugen. Abbildbarkeit von Welt? Neue Musik? Wo immer Neue Musik erklingt, ist das Unheil dieser Welt nicht fern. Im Assoziationsfundus des Hörers etwa, der in Stockhausens Gesang der Jünglinge Atombombenmusik vernahm. Nun schneidet ihr schon den erhobenen Zeigefinger ab, denn weder ist sie ihre Erfindung, die Suche nach dem Lebenskern, noch wird sie je darüber hinaus gelangen immer wieder neue, besondere Ausdrücke zu finden für die allgemeine Komplexität der Welt und des Lebens, das auf ihr stattfindet. Doch immerhin dies muss man ihr zugute halten, der Musik, die sich Neue Musik nannte und die innerhalb der Tradition dieses Neuen ihren Platz gefunden hat: Sie hat es sich in der Suche nach diesen Ausdrücken nie einfach gemacht. Und da, wo sie gut ist, hält sie auch heute noch einen Eindruck von Welt fest, der über das Grundrauschen einer Epoche hinausweist.

Doch wo wäre man in der Lage, diese Musik zu hören, die sich die Neue nannte und die einzig eine Antwort auf die Frage geben könnte, wozu das alles? Nirgends, denn über die Grenzen der Festivals für Neue Musik schafft sie es nicht hinaus. Daher rufe ich dazu auf:

Schließt die Festivals für Neue Musik, denn sie sind der Tod einer lebendigen Musikkultur. Reißt die Gartenzäune nieder, hinter denen sich die Pfleger einer Musikkultur verbergen, die sich die Schrebergärtnerei selbst verordnet haben, anstatt heimlich ihre Blumenzwiebeln in den öffentlichen Gärten zu vergraben, um sich im Frühling an ihrer anarchischen Blüte zu erfreuen.

Baut Schwimmbäder statt Philharmonien! Schließt die Kulturwellen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – und zwar rasch, bevor es ihm selbst gelingt, sich abzuschaffen. Beeilt euch, man ist weiter als ihr denkt. Sorgt dafür, dass in den Schwimmbädern echte Musiker die Strandbar bespielen. Stellt Hörfunkdirektoren ein, die bei Beethoven nicht an Kirche und bei Lachenmann nicht an ein Comedy-Programm denken. Gewährt jenen die Subventionen, die aus einer Intendanz nicht die Leitung eines Bestattungsinstituts machen.

Schluss mit dem Totenkult der Kulturindustrie. Die kanonbildende Funktion der Festivals hat sich erschöpft, es gibt keinen Kanon mehr. Suchen wir nach neuen Verbindungen, neuen Kurzschlüssen, bekämpfen wir die Epidemien der Vergangenheit und impfen wir uns gegen ihr infektiöses Gift mit den Laborprodukten der Gegenwart.

„Souverän ist, wer den Normalfall behauptet.“ (Bazon Brock) Gewöhnen wir uns daran, von Neuer Musik in der Vergangenheit zu sprechen. Und sprechen wir künftig nur noch von guter Musik, die heute entsteht.

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