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New Europe

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Die Musikologen der Universität Brno (Brünn) suchen übers Internet Beiträge für ein Kolloquium im Herbst mit dem Titel „New Music in the ,New’ Europe 1918–1938: Ideology, Theory, and Practice.“ Zur Erläuterung schreiben sie: „It will concentrate on ,new Music’ (,neue Musik’), musical modernisms and avant-gardes in those parts of Europe which have recently been honoured with the title of the ,new’ Europe“. Und weiter heißt es (ich übersetze): „In der Vergangenheit wurden sie als ,Peripherie’ von Europa bezeichnet, als ,exterritoriale’ Sphäre (Adorno), ,Morgenland’, Osteuropa oder, wenig abschätzig, als Mitteleuropa.“ Anschließend wird der deutsche Historiker Ferdinand Seibt zitiert, der die politisch und kulturell fortschrittliche Rolle, die diese „Peripherie“ im 14. Jahrhundert für Europa spielte, angemessen zu würdigen wusste.

Ein neuer Ton, der von einem erwachenden kulturellen Selbstbewusstsein dieser Länder kündet. Irritierend ist nur, dass man sich mit dem Ehrentitel „New Europe“ ausgerechnet einem internationalen Rechtsbrecher und Angriffskrieger verpflichtet fühlt, dem der Platz neben Milosevic in Den Haag nur deswegen erspart bleibt, weil er zur Führung des Imperiums gehört und damit unantastbar ist.

Kein Zweifel, die listige Schmeichelei von Mr. Rumsfeld hat in Warschau, Prag und Sofia so wirkungsvoll eingeschlagen wie seine Bomben in Bagdad. Sogar die unpolitische Musikwissenschaft fühlt sich geehrt. Das sollte uns Westeuropäer jedoch nicht zu überheblichen Reaktionen verleiten, sondern uns veranlassen, über die Gründe nachzudenken und auch Fragen an uns selbst zu stellen. Eines muss man vorab feststellen: Die Amis mit ihrem perfekten Nachrichtenapparat wissen über die Stimmungen in unseren östlichen Nachbarländern viel besser Bescheid als wir und verstehen sie entsprechend zu instrumentalisieren.

Haben nicht die „Mitteleuropäer“ – die zweifelhafte Ehre des „neuen Europa“ werde ich ihnen nicht antun – jahrzehntelang auf unsere Zeichen einer geistigen Verbundenheit über die Systemgrenzen hinweg gewartet, damit wenigstens auf diesem Weg, wenn schon der politische verbaut war, so etwas wie eine europäische Gemeinsamkeit oder Solidarität zum Ausdruck käme? Und hat man sie nicht, als der Vorhang gefallen war, auf die plumpeste Weise mit dem abstoßenden Gesicht des ökonomischen Europa, der Brüsseler Bürokratie konfrontiert? Sie beriefen sich auf alte Gemeinsamkeiten in Kultur und Geschichte und wurden behandelt als Bittsteller und Domestiken, deren Länder dem „westlichen Fortschritt“ erschlossen, lies: ökonomisch aufgerollt werden sollten.

Was weiß man eigentlich in Deutschland über die neue tschechische, polnische, rumänische Musik? Kaum etwas, außer den zwei, drei Vorzeige-Slawen, die irgendwie der Gnade teilhaftig geworden sind, im deutschen Festivalzirkus als Alibifiguren herumgereicht zu werden. In den siebziger und achtziger Jahren waren immerhin noch die Wittener Tage für neue Kammermusik ein bescheidenes Schaufenster in den Osten. Heute, da die Grenzen offen sind, setzt man sich in Deutschland aufs hohe Ross des längst entleerten Materialbegriffs, um mit einer Arroganz, die man sich objektiv nicht mehr leisten kann, herabzuschauen auf den unterentwickelten Osten. Was nicht in den engen Horizont der gepflegten Subventionsavantgarde passt, gilt als uninteressant.

Es gibt geschichtliche Hypotheken, die man in einen produktiven Dialog umwandeln könnte. Aber sie werden offensichtlich noch immer verdrängt. Legt man sich hierzulande etwa Rechenschaft darüber ab, was es heißt, wenn ein Prager Label eine CD-Reihe mit „entarteter tschechischer Musik“ veröffentlicht? Wer hat dieser Musik das Etikett „entartet“ angehängt? Sicher nicht die Tschechen selbst. Natürlich gibt es diese Reihen auch in Deutschland. Doch es ist etwas grundsätzlich anderes, wenn so eine CD in Prag erscheint.

Oder die Jedwabne-Diskussion, die in den westlichen Medien begierig und nicht ohne Eigennutz aufgegriffen wurde und deren Wahrheiten inzwischen um einiges relativiert wurden: Wie wirkt es auf eine Bevölkerung, die von der Ausrottung und Versklavung bedroht war, wenn die Nachkommen der Täter mit dem Moralfinger auf sie zeigen? Warum schaut dieselbe deutsche Öffentlichkeit weg, wenn ganze Dörfer in Westpolen inzwischen wieder fest in deutscher Hand sind, aufgekauft von denjenigen, die nun fünfzig Jahre lang umsonst von der Politik die „Rückgabe der deutschen Ostgebiete“ gefordert haben? Die Brüsseler Politik, die die Kleinbauern ruiniert, macht’s möglich. Gute Nachbarschaft? Business as usual.

Das politische Gelände ist noch immer vermint. In musikalischen Dingen sollte man sich deshalb vor Überheblichkeit hüten. Ist ein mittel- oder osteuropäischer Komponist erst dann ein guter Komponist, wenn er die ins Alter gekommene bundesdeutsche These verinnerlicht hat, Komponieren müsse sich immer selbst in Frage stellen, wolle es ernst genommen werden? Ist das nicht eine eminent deutsche Problematik, die mit der von Adorno zum ästhetischen Thema gemachten Jahrhundertschuld zu tun hat? Müssen sich die Komponisten in Krakau oder Bratislava, der Klangphobie der deutschen Avantgarde folgend, stets moralisch am Hinterkopf kratzen, wenn sie einen Ton zu Papier bringen? Oder müssen sie sich der Mode des smarten Klangraumdesigns anpassen, um von den großen deutschen Veranstaltern wahrgenommen zu werden?

Die Liste der Fragen ließe sich beliebig verlängern und es wäre von Vorteil nicht nur für ein gutes europäisches Zusammenleben, sondern auch für die eigene Standortbestimmung, wenn man sie hier zu Lande ernster nehmen würde. Ein Blick von außen kann nie schaden und vielleicht käme dann heraus, dass manches an der deutschen Neue-Musik-Szene inzwischen reichlich alt aussieht. Und wenn sich unsere östlichen Nachbarn von uns ernsthaft wahrgenommen fühlten, kämen sie wohl ziemlich schnell darauf, dass das Neue eher im gemeinsamen europäischen Haus als im Pentagon zu finden ist.

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