Die massenmediale Unterhaltungskultur produziert immer wieder mächtige Trends, doch ohne den Segen der „oberen“ Kultur in Form der Wahrnehmung durch die so genannte seriöse Presse sind sie nichts. Gegenwärtig informieren uns die großen Tageszeitungen von der „Süddeutschen“ bis zur „Welt“ über einen Megatrend. Sie berichten, dass „vermutlich“ rund die Hälfte der jüngeren Bundesbürgerinnen und -bürger sich die Intimrasur verpasse, wobei die Varianten von ratzekahl über G wie Gucci bis zum Kuranyi-Bärtchen reichten.
„Vermutlich“, denn noch fehlt eine repräsentative Infratest-Umfrage, über die in den Tagesthemen berichtet werden könnte. Immerhin zeigte das Schweizer Fernsehen – Megatrends sind international – bereits einen jungen Mann, der es mit zusammengebissenen Zähnen ertrug, wie ihm die sachkundige Intimstylistin die Haare von den Hoden riß.
In den Performative Arts hat sich der Megatrend zur Ausstellung der primären Geschlechtsmerkmale schon längst durchgesetzt. In den besseren Kulturetablissements wird er noch mit entsprechend gediegenem Überbau, konnotationsgesättigt und züchtig in existenzielle Botschaften gehüllt, zelebriert. An Calixto Bieitos Opernregien genießt der Kulturbürger die Mischung von aristotelischer Katharsis und stressfreiem Voyeurismus. Manchmal gilt es auch noch als avantgardistisch, wenn Mantel und Degen, die klassischen Utensilien aus Opas Oper, durch Unterhose und Naturdegen ersetzt werden.
Doch das hat heute bestenfalls noch den Reiz der Kostenersparnis. Anders in Frank Castorfs Berliner Volksbühne, wo man längst mit aufgeklärter Routine zur Sache geht: Schon 2006 erläuterte hier die Schauspielerin Annie Sprinkle den begeisterten Besuchern des Symposiums „Postpornpolitics“ laut Zeitungsbericht das „Innere ihrer Genitalien“. Und wie immer, wenn es um Trends geht, rennt mit Verspätung auch noch die Neue Musik hinterher. In Leipzig wurde gerade ein Konzert im Bordell veranstaltet. Vermutlich wurde da aber nur das Innere der Instrumente vorgezeigt. Man kann sich den Kulturschock, der damit im verruchten Rotlichtambiente ausgelöst wurde, lebhaft vorstellen.
Beim kollektiven Zwang zur öffentlichen Entblößung stellt sich die Frage nach den Gründen. Als einzig zuverlässige Antwort bietet sich nur die urkapitalistische Maxime an: Sex sells. Doch jenseits dieser ewigen Wahrheit gibt es noch immer einen Abgrund an Unwissen:
Warum müssen auf der Theater- und Opernbühne immer mehr Nackte auftreten? Warum zeigt das Fernsehen Hoden und Hinterteile als Unterhaltungselemente? Warum müssen Tageszeitungen prominent über Intimpiercings berichten?
Im Fall des Fernsehens könnte die aktuelle Diskussion über die politische Berichterstattung einen Hinweis liefern. Der ehemalige Tagesthemen-Moderators Ulrich Wickert kritisiert die heutigen Nachrichtensendungen als schlecht recherchiert und sprachlich schlampig. Die Präsentation von News bei den Öffentlich-Rechtlichen verkomme immer mehr zum Entertainment. Er hat aber zum Glück die Nachrichtenshows des Hodensenders namens Schweizer Fernsehen nicht gesehen, denn sonst würden ihm nämlich die Haare zu Berge stehen. Bei den tendenziös feixenden Witzbolden als Moderatoren und der Mischung von Hard News und Boulevard ist ein Unterschied zum Berlusconi-TV kaum noch auszumachen.
Man muss es offenbar hinnehmen, dass die Fernsehsender sich in ihrer Infotainment-Ideologie schon längst so fest eingerichtet haben, dass es kein Zurück mehr gibt; die halbnackten Girls neben den Moderatoren im Cavaliere-TV sind da nur konsequent. Vielleicht muss man es auch hinnehmen, dass die Subventionstheater, um eine vorzeigbare Quote zu erzielen, diese Zuschauerköderei nachmachen wollen und die vorsorglich als bürgerlich denunzierten Tabus mit pseudo-aufklärerischer Geste dem Glotzen und Gelächter preisgeben. Das Provokationsbedürfnis, das dabei gelegentlich noch mitschwingt, ist verlogen, denn es ist schon längst zur frivolen Marketingstrategie mutiert.
Doch weshalb die pseudowissenschaftlichen Beiträge über Schwellkörper und Orgasmen in den sogenannten seriösen Zeitungen? Will man damit verhindern, dass die Leserschaft ins Internet abwandert, weil es dort Porno am Laufmeter ohne störende Politik gibt? Da sich die Zahl der Druckspalten aber nicht erhöht, wird der Griff ins pralle Leben kompensiert durch Abbau der Beiträge zu weniger prallen Themen. Etwa derjenigen zur Neuen Musik. „Das bringe ich nicht unter“, heißt dann die kleinlaute Auskunft des Redakteurs.
Nun lässt sich einwenden: Die Beschäftigung mit dem eigenen Körper ist immer noch besser, als andere Länder zu überfallen. Doch wo der hedonistische Aspekt so überhand nimmt, bleiben die geistigen Grundlagen, die „Primärmerkmale“ einer Kultur, auf der Strecke.
Sie gelten als langweilige Prinzipien und werden deshalb, von der Mozart-Inszenierung bis zur Ethik-Sendung im Dritten, konsumentenfreundlich aufgepeppt beziehungsweise „aktualisiert“, weil man sie sonst angeblich nicht mehr versteht. Intimrasur hingegen versteht jeder. Da bleibt nur eine Hoffnung: Dass der Verstand, wenn unten einmal alles abgegrast ist, irgendwann wieder zurück Richtung Kopf wandert.