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Rote Theatersessel auf Holzboden. Die Reihen in leichter Kurve, die Wände mit verzierter beiger Tapete oder Putz.

Reihe 9 im Teatro di San Carlo Neapel. Foto: mku

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Reihe 9 (#23) – sehen, hören, sterben

Vorspann / Teaser

Im selten gewordenen unterhaltenden Feuilleton wurde früher zum Abschluss von Interviews gerne die Frage nach dem Lieblingsbuch oder der Lieblingsmusik gestellt, die man mit auf eine einsame Insel nehmen würde. Abgesehen davon, dass es ein solch unberührtes Eiland heute kaum mehr in erstrebenswerten Breitengraden gibt, hat diese zweifelsohne hypothetische, gleichwohl reizvolle Überlegung weitgehend ausgedient: In Zeiten von E-Book-Reader und Streaming stellt sich kaum mehr die Frage nach dem einen Buch oder dem einen Musikstück, sondern die nach dem Wi-Fi, dem Akku-Status und der Laufzeit des abgeschlossenen Abonnements – also der Verfügbarkeit an sich. Nur an wirklich entfernten Orten besteht die ursprüngliche Frage in all ihrer existenziellen Bedeutung weiter, wie es jüngst der seltsame Vorfall in Bellingshausen auf dem King George Island gezeigt hat, als ein Wissenschaftler seinen Kollegen lebensbedrohlich verletzte: Dieser hatte ihm nämlich immer den Ausgang des gerade gelesenen Buches verraten. Das spaßmeuchelnde Verhalten ist wohl ein nicht ganz seltenes Phänomen, hat die Jugendsprache dafür doch den Begriff „spoilern“ gebildet.

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Der Kollege hat glücklicherweise überlebt. Sonst wäre er mit Enden von Geschichten ohne Anfang hinübergegangen. Mir kommt bei diesem Thema immer ein Abschnitt aus Herbert Rosendorfers Roman „Der Ruinenbaumeister (1969) in den Sinn, wenn Ruinenoberbaurat Weckenbarth, das Ende der Welt vor Augen, über die unbeschadete Passage ins Jenseits begleitet von einem Streichquartett nachsinnt: „Wenn ich denke, dass unser Heil … dort drüben … davon abhängt, dass uns vier bestimmte Instrumente zur Verfügung stehen, ja mehr noch: dass nicht einer in der Aufregung am Schluss falsch greift und wir von einem Missklang getragen ins Jenseits schlittern …“

Liturgisch jedenfalls steht am Ende des Wegs ein Requiem – vom Priester gesprochen, in der Musikgeschichte jedoch vielfach vertont, von Ockeghem und Caldara über Mozart, Cherubini bis hin zu Dvořák, Fauré und Britten. Eine Sonderstellung nimmt seit jeher Giuseppe Verdis „Messa da Requiem“ ein, deren letzter Satz („Libera me“) auf die für Jahrzehnte vergessene „Messa per Rossini“ (1868/69) zurückgeht, ursprünglich ein Gemeinschaftswerk von insgesamt zwölf Komponisten. Das Requiem, 1873 als vorläufig letzte Partitur und im Angedenken an den politisch im Risorgimento aktiven Dichter Alessandro Manzoni entstanden, ist ein Werk des Abschieds. Umso erstaunlicher, dass nun eine Aufführung unter der Leitung von Juraj Valčuha die aktuelle Spielzeit des Teatro di San Carlo in Neapel eröffnet hat. Verblüfft fragte ich mich: ein programmatischer Fehlgriff oder doch Programm, denkt man an die vielen Menschen, die voller Hoffnungen die italienische Küste in den vergangenen Monaten nicht erreicht haben? Vielleicht ist es am Ende auch einfach nur die konsequente Umsetzung des sprichwörtlich gewordenen „Vedi Napoli e poi muori“ – das auf den Straßen der Stadt angesichts der zahlreichen motorisierten Zweiräder und ihrer sportlichen Fahrweise für jeden fremden Fußgänger eine vollkommen neue Dimension erhält.

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Ihr

Michael Kube

Reihe 9

Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.

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