Ohne Veränderung wird jede noch so gute Tradition eines Tages hohl und überlebt sich am Ende ganz. Dies betrifft im Jahreslauf insbesondere die Zeit ums Weihnachtsfest und den Jahreswechsel – vom Plätzchenbacken über den gediegenen Gänsebraten bis hin zum (beobachteten) Feuerwerk. Musikalisch sieht es kaum anders aus: Ist erst einmal Wahms allgegenwärtiges, eine Dauerschleife drehendes „Last Christmas“ überstanden (in den Jahrzehnten davor war es fraglos-klaglos das Weihnachtsoratorium), wird vielerorts den globalen Realitäten trotzend Beethovens Neunte bemüht, um dann mit einem noch schlaftrunkenen 3/4-Takt den Kater des Anfangs hinter sich zu lassen.
Reihe 9 (#25) – Traditionen, aber anders
Doch man kann es auch anders machen. Dazu bedarf es zunächst seitens der Programmplanung einer bewussten Entscheidung (und diese muss nicht einmal mutig sein), dann aber muss man selbst das Glück haben, solch ein Konzert im bedrohlich engen Dickicht aus dem „Glanz der Barock-Trompete“ und der „Exklusiven Silvester-Gala“ zu finden – allesamt Angebote, die den Gelegenheitsbesucher als Zielgruppe definiert haben, Festlichkeit suggerieren und doch nur „von der Stange“ sind. Da lohnte sich in der Adventszeit der Weg nach Frankfurt in die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst zur hauseigenen Produktion eines späten Einakters von Paul Hindemith: „The Long Christmas Dinner“ (1960) nach einem Libretto von Thornton Wilder. Wer hier allerdings ein in Retrospektive erstarrtes Werk vermutete, wurde von einer verständigen Inszenierung und sängerisch hoch motiviertem Nachwuchs überrascht. Zu sehen war das familiäre Ritual, bei dem in absurd geraffter Zeit ein ganzes Jahrhundert vorüberzieht. Wer vom Fest Besinnlichkeit erwartet – hier konnte man sie tatsächlich erschreckend greifbar finden: So also kommen und gehen die Generationen, nur Sandkörner im Strudel der Zeit. Allein das Festmahl mit Truthahn und manch leerer Floskel hat etwas länger Bestand.
Wie übrigens auch Beethovens Neunte, die aber außer an Silvester und Neujahr kaum einmal mehr an den übrigen 363 Tagen des Jahres angesetzt wird – zyklische Aufführungen oder musikalisch inszenierte staatstragende Ereignisse ausgenommen. Wie ein bürgerliches Ritual mutet daher auch die Freude über den Götterfunken an. Wo ist heute die damit verbundene Utopie geblieben? Zumal in einer Welt, in der sich viele Menschen rein gar nicht mehr verbrüdern wollen, es schon an bloßem Respekt voreinander fehlen lassen? Für Vladimir Jurowski, seit 2017/18 Chef des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, gab es daher nur die Option, einer Aufführung durch eine vorhergehende Läuterung frisches Leben einzuhauchen – in diesem Fall mit der Uraufführung von „discorso“ von Georg Katzer. Doch so erfrischend zeitlos diese „Rede“ zwischen den Orchestergruppen auch ausfiel, hatte ich das Gefühl, dass weite Teile des Auditoriums den überraschenden „Gruß aus der Küche“ vor dem gebuchten Menü nur artig zur Kenntnis genommen haben. Doch auch von einem klingenden Dessert ist noch niemand satt geworden.
Ihr
Michael Kube
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