Dass der Klimawandel nicht nur das Szenario einer weiten Wüstenei bereithält, sondern auch Katastrophen der Kälte, dürfte in den vergangenen Monaten jedem klar geworden sein. Die Bilder des im letzten langen Sommer zu einem dürren Rinnsal ausgetrockneten Rheins werden hoffentlich nicht so schnell vergessen. Nur wenige Monate später versanken Mitte Januar Teile der Alpen im Schnee. Die anfangs ob der weißen Pracht noch höherschlagenden Herzen erreichten indes bald einen inneren Gefrierpunkt angesichts der beständig herabrieselnden Massen. In den Medien wurden daher nicht von ungefähr bewegte Bilder der norddeutschen Schneekatastrophe aus dem Winter 1978/79 hervorgeholt, die ich selbst noch in Erinnerung habe: In der Stadt wurde die weiße Pracht zwar nicht als Bedrohung, wohl aber als ein Phänomen wahrgenommen, bei dem auch in jungen Augen die unerschütterlich geglaubte Infrastruktur recht zerbrechlich wirkte.
Reihe 9 (#26) – Vorspiel vom Ende
Diese und andere Gedanken stellten sich unweigerlich bei der Berliner Uraufführung von Beat Furrers jüngster Oper ein: „Violetter Schnee“. Gemeinsam mit dem Librettisten Händl Klaus ist ein bedeutendes, überaus aktuelles Werk entstanden, das sich in eisiger Kälte nur langsam als innere Reise entwickelt und am Ende gefriert. Erste Bezugspunkte bilden das bekannte Gemälde „Jäger im Schnee“ (1556) von Pieter Brueghel, aber auch Andrei Tarkowskis Film-Epos „Solaris“ (1972) nach dem gleichnamigen Roman von StanisÅ‚aw Lem – aus dem Gemälde das sich ankündigende Unheil, aus Solaris, mehr philosophische Fabel als Science-Fiction, der lebendig gewordene Blick in die eigene Vergangenheit. Bei Furrer/Händl ist es Tanja, die nicht nur zu Beginn eine sprachlich wie musikalisch überaus starke Bildbeschreibung übernimmt, sondern auch (gleich der gestorbenen Hari in der filmischen Vorlage) auf der Bühne weiterhin präsent bleibt.
Dass Claus Guth seine Inszenierung nicht abstrakt gestaltete, sondern tatsächlich „wir“ gemeint waren, wurde rasch greifbar: ein Saal des Kunsthistorischen Museums (Wien), bei dem man meint, Irrsigler würde gleich hervorlugen, und die Tiefe einer von den Protagonisten bewohnten engen Behausung, die an einen kuscheligen privaten Atomschutzbunker gemahnt. Weit ist denn auch der Aufstieg nach oben (beeindruckend das vielgeschossig sich hebende und senkende Bühnenbild). Draußen aber versinkt alles im Schneetreiben, vielfach buchstäblich übermalt durch bewusst unscharfe, in fahles Grauweiß tauchende Projektionen von Brueghel-Details, begleitet von den wie aus einer anderen Zeitebene stammenden, in schier unendlicher Zeitlupe durch die Straßen gleitenden Renaissance-Gestalten.
Ob am Ende die aufgehende violette Sonne den Untergang bedeutet oder ein neues Erwachen, bleibt in den erstarrenden Worten und Klängen offen: „ich verstehe … ich höre … ich fühle…“ Unwillkürlich möchte man mit Stefan George „von anderem Planeten“ ergänzen. Seltsam fremd mutete daher die reale Welt beim Verlassen des Hauses an. Zumal es an jenem Abend unter den Linden tatsächlich grieselte. Es dauerte eine Weile, die eigenen Sprache wiederzufinden.
Ihr
Michael Kube
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