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Reihe 9 in der Berliner Philharmonie. Foto: mku
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Reihe 9 (#74) — Missverständnisse

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Manchmal kann es im Konzert auch zu Missverständnissen kommen. Ich meine nicht die zwischen Dirigent und Orchester oder von Musikern untereinander, wenn etwa eine Geste anders gedeutet wird als gemeint. Solche Situationen bleiben im Auditorium meistens unbemerkt – nur wer genau hinschaut, sieht ein flüchtiges Lächeln als kleines Indiz. Was aber, wenn das Publikum einen frei gewählten Konzerttitel samt Programm missversteht?

Eindeutig sind traditionelle Plakate, auf den neben den Interpreten Komponisten und Werke geradewegs genannt werden. Schwieriger wird es, wenn eigenständige Begriffe diese Metadaten komplett ersetzen. Das fängt beim Neujahrskonzert an und hört beim Silvesterkonzert auf. Kann man in diesen Fällen das Programm oder zumindest die Richtung erahnen, also die bewährte Neunte oder einen bunten Strauß gefälliger Melodien in Champagnerlaune, so wird es bei anderen Überschriften schwierig. Aktuell steht (vor allem in Berlin) offenbar das heilsame „Healing“ hoch im (Dis)Kurs. Beim DSO geht es im März unter diesem Motto etwa um die Frage, ob und inwieweit (klassische) Musik „Refugium, Entspannung und Regeneration, vielleicht sogar Kreativkraft“ bietet.

Anders kürzlich in der Berliner Philharmonie bei einem Konzert der von Karsten Witt veranstalteten, hochambitionierten Reihe hiddenCLSX. Auch hier ging es um „Healing“ – allerdings nicht mittels entspannter Klänge, sondern im Sinn einer überraschend schmerzhaften Rosskur. Denn wer vermag hinter diesem sympathischen Motto drei so bestürzende und zugleich aufrüttelnde Werke vermuten wie Charles Ives’ Decoration Day (1913), The Wound-Dresser (1988) von John Adams oder gar die Kaddish-Sinfonie (1963) von Leonard Bernstein?

Weiten Teilen des international besetzten Auditoriums war von vornherein bewusst, dass hier zur besten Sonntags-Teatime eher schwere Kost auf den Notenpulten lag. Andere hatten sich offenkundig in das Konzert verirrt, hielten aber tapfer durch wie die vierköpfige Familie, deren Papa in der ersten Hälfte vielfach zum hell leuchtenden Handy griff, während die Töchter tonlos vor sich hin gickelten und alle vier die Sinfonie nur mit Hilfe eines brüderlich geteilten Schokoriegels meisterten. Anders jener wohl dreijährige Wonneproppen, der neben seiner Mama keinen Gefallen an den Klängen fand und ungefragt die Aufmerksamkeit auf sich zog (erst der durch die Umsitzenden erteilte Platzverweis sorgte für Ruhe). – Das Geschehen auf dem Podium blieb von diesen Missverständnissen unberührt: Dennis Russell Davies leitete gleich drei Ensembles des MDR (Kinderchor, Rundfunkchor und Sinfonieorchester), als Solisten wirkten Sarah Wegener und Thomas Hampson mit, der auch die Sprecherrolle übernahm.


Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.

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