Unter den berühmten Interpreten, vor allem den im Rampenlicht stehenden Dirigenten, hat es immer wieder Figuren gegeben, die von den Anhängern einer fortschrittlichen Musikpraxis besonders scheel angesehen worden sind. Da gibt es einmal die Fälle, bei denen reaktionäre ästhetische und politische Überzeugungen Hand in Hand gehen. Als ihr Prototyp kann der NSDAP-Karrierist Karajan gelten, der sozusagen aus Alibigründen irgendwann auch einmal Schönbergs Orchestervariationen dirigierte, aber sonst als Gralshüter des Abendlandes bis zum Schluss ehern seinen Geschäften nachging. Das sind die einfachen Fälle, über die eine Diskussion nicht lohnt.
Unter den berühmten Interpreten, vor allem den im Rampenlicht stehenden Dirigenten, hat es immer wieder Figuren gegeben, die von den Anhängern einer fortschrittlichen Musikpraxis besonders scheel angesehen worden sind. Da gibt es einmal die Fälle, bei denen reaktionäre ästhetische und politische Überzeugungen Hand in Hand gehen. Als ihr Prototyp kann der NSDAP-Karrierist Karajan gelten, der sozusagen aus Alibigründen irgendwann auch einmal Schönbergs Orchestervariationen dirigierte, aber sonst als Gralshüter des Abendlandes bis zum Schluss ehern seinen Geschäften nachging. Das sind die einfachen Fälle, über die eine Diskussion nicht lohnt. Dann gibt es aber die weniger eindeutigen Fälle, und hier wird’s kompliziert. Die griffige Gleichung „politisch reaktionär gleich ästhetisch reaktionär“ genügt dann nicht mehr, um einen Konsens der Empörten hervorzurufen. Altbackene politische Begriffe wie reaktionär, konservativ oder fortschrittlich, die früher zur Selbstvergewisserung der Political Correctness dienten, sind inzwischen ohnehin abgelöst worden durch Kriterien aus den Lebens- und Wissenschaftsbereichen Multikulti, Öko, Gender und DritteWelt-Läden. Heute würde man nicht mehr argumentieren: „Karajan ist aus Karrieregründen zweimal in die Nazipartei eingetreten“, sondern: „Karajan kauft Flug-Ananas von DelMonte.“ Das passt dann zur Deutschen Grammophon, die ja mal via Whisky-Firma Seagram von Universal (Hollywood) gekauft wurde und jetzt zusammen mit Universal im großen Bauch des multinationalen Wasserkonzerns Vivendi (Paris) herumschwappt, der wiederum die Wasserversorgung in der Dritten Welt auf kapitalistische Weise... Aber lassen wir das und kehren wir zurück zur E-Musik und ihren Dirigenten.Zu den Unbequemen, die sich im Big Business ganz vorne aufstellten, Glamour und Erfolg pflegten und sich zugleich für die zeitgenössische Musik stark machten, gehörte zum Beispiel Leonard Bernstein. Wo ist er nun einzuordnen? Als Autor eines Musical-Welthits? Als Vorkämpfer der Musik von Charles Ives und anderer amerikanischer Zeitgenossen? Als jüdisch-liberaler Messekomponist? Als Dirigent, der die Schallplattenkarriere von Gustav Mahler im Stereozeitalter begründete? Europäische Avantgardisten haben ihm vermutlich angekreidet, dass er nie in Darmstadt war und ihm deswegen die Initiation abging. Sein Hang zur Popularisierung ging ihnen sowieso total auf die Nerven.
Wenigstens erschien er politisch akzeptabel: Er hatte Sympathien für die Linke, was ihm die lebenslange Beobachtung durch das FBI einbrachte, er war schwul und setzte sich für Randgruppen ein. Aber ästhetisch? Ein unwillkommener Parteigänger, der sich um die reine Lehre des Materials respektive Leere des Konzertsaals einen Pfifferling scherte, die Tonalität nicht ablehnte und mit der neuen Musik schamlos zum Publikum ging. Die exponierte Avantgarde hatte in einem solchen Konzept zweifellos keinen Platz. Doch nahm er unzähligen Brahms-Beethoven-Bruckner-Fans die Angst vor den ungewohnten Klängen der Gegenwartsmusik und schuf damit im Konzertsaal ein Klima der Toleranz, von dem indirekt auch die Hardcore-Avantgarde profitieren konnte.
Übertroffen in seinen Popularisierungsbestrebungen wurde Lennie indes durch Leopold Stokowski, und es ist kein Zufall, dass beide in den USA ihr Wirkungsfeld hatten. Der Name Stokowski ist für viele seriöse Musikfreunde, nicht nur in der neuen Musik, bis heute ein rotes Tuch. „Das ist doch der mit der Mickey Mouse!“ ist auch heute noch ein beliebter Einwand, um eine Diskussion über ihn gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Stokowski hatte sich 1940 mit Walt Disney zusammengetan, um den Musikfilm „Fantasia“ zu produzieren. Der Streifen ist bis heute ein Musterbeispiel für ästhetische Innovation im Schnittpunkt von Bild und Ton. Das meiste von dem, was an Versuchen einer Visualisierung von klassischer Musik seit fünfzig Jahren über die Bildschirme geht, stellt er spielend in den Schatten.
Dass Stokowski darin einmal mit Mickey Shakehands macht, gilt heute noch vielen als Sündenfall. Seine anderen Sünden, wie etwa seine Bearbeitung von Bachs Orgeltoccata in d-Moll für Sinfonieorchester oder seine dirigentischen Selbstinszenierungen mit Lightshow, gelten daneben als harmlose Entgleisungen.
Unterschätzt wird bei solchen Einwänden Stokowskis Rolle als erster großer Mediendirigent des 20. Jahrhunderts. Er brachte dazu nicht nur unbestreitbare musikalische Qualitäten mit, sondern auch das für einen Medienstar nötige Drum und Dran: Er sah blendend aus und war dreimal verheiratet, seine Affäre mit Greta Garbo hielt die internationale Klatschpresse in Atem.
Also ein reiner Hollywood-Typ? Keineswegs. Stokowski nutzte sein ungewöhnliches Charisma, um neue, nicht privilegierte Hörerschichten an die Musik aus Klassik und Moderne heranzuführen. Früher und auf universalere Weise als Toscanini nahm er große Teile des Konzertrepertoires auf Schallplatte auf, und mit seinem viel kritisierten Ausflug nach Hollywood brachte er immerhin Strawinskys „Sacre“, das Skandalstück von 1913, einem Millionenpublikum näher.
Er war ein unermüdlicher Vermittler und Pädagoge auch gegenüber dem Philadelphia Orchestra, das er 25 Jahre lang leitete und in dieser Zeit zum internationalen Spitzenorchester machte, das es bis heute geblieben ist.
Erstaunliches leistete der Glamour-Dirigent mit seinem rückhaltlosen Eintreten für die Moderne. Wer dirigierte die amerikanischen Erstaufführungen von Mahlers Achter, Schönbergs Gurreliedern und Bergs Wozzeck? Stokowski. Die Uraufführung von Varèses Amériques in der monströsen Erstfassung von 1926? Stokowski. Von Schönbergs Klavierkonzert mit Eduard Steuermann, seinem Violinkonzert mit Louis Krasner? Natürlich Stokowski. Und die Uraufführung der integralen Fassung von Charles Ives’ vierter Sinfonie 1965 in New York? Der 83-jährige Stokowski. Die Liste ließe sich endlos verlängern.
Manchen seiner Uraufführungen mag noch deutlich der Makel des Erstmaligen, Provisorischen angehaftet haben. Aber das Entscheidende war: Er tat es. Indem er sich mit seinem hohen Prestige für diese Musik einsetzte, schlug er ihr eine Bresche. Dass Stokowski nach Hollywood statt nach Darmstadt ging, mögen ihm deshalb die Avantgardisten verzeihen. Die irritierende Frage lautet nur: Wer ist denn da eigentlich Avantgarde?