Die Münchner Musiktheaterbiennale, stets auf der Suche nach Grenzüberschreitungen, wagte in diesem Jahr eine Begegnung mit der DJ-Kultur. Ein junges Team von Studierenden und Absolventen der Musikhochschule und der Bayerischen Theaterakademie sorgte dafür, dass das Experiment, das unter dem Titel „Barcode“ die Welt des Konsums wieder einmal als buntes Gehege für hoffnungslos manipulierte Verbraucher darstellte, mit Schwung über die Bühne ging (siehe Bericht auf S. 37/38).
Biennale-Chef Peter Ruzicka und Musikhochschuldirektor Siegfried Mauser als musikalische Berater hatten die Musikstücke von Steve Reich bis Orff (und Ruzicka) ausgewählt, aus denen die DJ-Musikerin Alexandra Holtsch dann ihren Sound herstellte. Die Samples waren meist sehr kurz, die Verarbeitung eingreifend, so dass von den Originalen kaum noch etwas erkennbar war. E meets U: ein kniffliger Fall sowohl für Strukturanalytiker als auch für die GEMA – was hängt womit zusammen, wer ist hier der Autor?
Eine Knacknuss auch für die Theoretiker. Die Vertreter der oberen Kultursphäre fühlten sich vermutlich doch nicht so ganz wohl bei diesem Abstecher in die Gefilde der Clubkultur, sonst hätte wohl Siegfried Mauser beim Podiumsgespräch vor der Uraufführung nicht den Versuch unternommen, den munteren Mix aus Scratch, Krach und Elektropop, den die beiden DJs an ihren Turntables produzierten, theoretisch zu adeln. Nein, der nahe liegende Vorwurf der Postmoderne treffe auf diese Musik gewiss nicht zu, dazu sei sie zu widerständig und zu brüchig. Vielmehr handle es sich dabei um einen klaren Fall von Zweiter Moderne. Hier blickte Ruzicka zufrieden in die Runde.
Dem Zuhörer wurde bei diesen eleganten dialektischen Pirouetten ganz schwindlig, und im Kopf begann es zu surren: Widersprüche im Material aufzeigen, Erkenntnischarakter der Musik, kritisches Hören... Man war ganz verblüfft, wie argumentationssicher hier der Aktionismus der Turntable-Jongleure an die Leine der Theorie genommen wurde.
Beinahe sah es so aus, als ob der heimatlos gewordenen Kritischen Theorie unverhofft der ersehnte Anschluss an die avanciertesten Kunstpraktiken gelungen wäre. Wenn sich trotzdem kein Hochgefühl einstellen wollte, so wohl auch deshalb, weil diese Praktiken vielleicht doch nicht so avantgardistisch sind, wie sie wohlmeinenden liberalen E-Musikhörern erscheinen mochten. Vor allem aber war es die DJ Alexandra Holtsch selbst, die allen theoretischen Träumereien eine herbe Ab- fuhr bereitete. Sie erweise den Komponisten, deren Stücke sie hier verhackstücke, einen großen Gefallen, meinte sie in einer prophylaktischen Replik auf Einwände, die gar niemand erhob. Sie müssten doch froh sein, dass ihre Werke hier endlich einmal aufgeführt würden und ein Publikum fänden. In ihren Stücken stecke eine unheimlich starke Energie, die dann in ihre Performance einfließe, und das sei doch einfach super.
Eigentlich hat sie ja Recht. Mit ihrem pragmatischen Musikverständnis – man könnte es mit Adorno auch Musikantenbewusstsein nennen – bringt sie den Saal ganz schön zum Dröhnen und Grooven. Das einzige Problem ist nur, dass von den Stücken, deren unheimlich starke Energien sie nutzt, nichts mehr erkennbar bleibt. Sie werden partikelweise mit Haut und Haar aufgefressen, verdaut und als elektronisch transformierte Stoffwechselprodukte wieder ausgeschieden. Dem Hörer dürfte es egal sein, ob hinter den Geräuschen, die aus den Lautsprechern quellen, jetzt ein Orff oder ein Lachenmann steckt.
Und wieder einmal hat die Theorie den Zug verpasst, besser gesagt, sie ist auf den falschen aufgesprungen: auf den der Popmusik. Er fährt mit Volldampf in eine ganz andere Richtung, und alle Bemühungen sind umsonst, ihn auf die alten Begriffsgeleise umzuleiten. Diese Musik will nicht falsches Bewusstsein entlarven oder über irgendetwas aufklären. Sie ist pure Manifestation ihrer selbst und dient zur Möblierung bereits vorhandener Stimmungslagen und Bewusstseinsräume. Sie demonstriert die Macht des Faktischen. Was ja nicht per se schlecht zu sein braucht.
Dagegen kommt keine Theorie an, die bei allen dialektischen Klimmzügen noch immer klammheimlich an der Idee des autonomen Kunstwerks festhält, auch wenn sie ihre Adornismen mit Vokabeln wie Widerstand und Subversion zeitgemäß zurechtfrisiert. Sinnvoller als solche Versuche, die neue Wirklichkeit der alten Theorie anzupassen, wäre es, die akustischen Phänomene als das zu beschreiben, was sie sind – Ausdruck einer strikt empirischen Musizierhaltung, die sich durch ihren sozialen und technologischen Kontext definiert. Die Idee großer Kunst wäre jenseits solcher soziologischer Kriterien zu finden.
Max Nyffeler