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Theo Geißler. Foto: Charlotte Oswald

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Theos Kurz-Schluss: Wie mich eine laut Lauterbach nötige Erfassung all meiner Daten (zwecks materieller Gesundung des Gesundheitswesens und der Patienten) ruinierte

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Nein, versprochen (wenn auch gekreuzte Finger hinterm Rücken): Diesmal schreibe ich nix über meine Angst vor Künstlicher Intelligenz. In meinem Geriatrie-Podcast samt persönlicher Ratgeber-Funktion „Happy über achtzig“ antwortete mir ein Dr. Eckart von Hirschhütte oder so ähnlich (mein Gedächtnis!): „Machen Sie sich keine Sorgen. Ihr Rentnerjob wird eh nicht mehr gebraucht. Primitive Texte in Ihrer verschrobenen Diktion liefert mein elektronischer Garagentoröffner minütlich in besserer Qualität. Denken Sie an unser moralisches Motto: Rente ist Gnade. Da Sie ein beratungsintensiver Kalkhaufen sind, erhalten Sie diese Unterstützung nur noch zweimonatlich. Dafür verdoppelt sich Ihr individueller Erkrankungs-Risiko-Beitrag ab sofort auf zehntausend Dollar.“

 

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Ach so: Sie gehören vielleicht zur Sekte der Info-Verweigerer. Wir schreiben bekanntlich das „Superjahr drei“ nach Eingliederung der BRD als 54. Staat in die USA (das war 2024 nach alter Zeitrechnung). Fakten, null Fakes! Da sind wir uns hoffentlich noch einig. Governor Norbert Röttgen verkündete gerade triumphierend im Smog-TV (horizontweite Himmelsprojektion plus Gesamtbeton-Akustik-Transport), dass die nach der kurzfristigen Besatzung Frankreichs durch russische Elite-Selbstmörder für ungültig erklärten Pariser Klimaziele derzeit wie versprochen nur um das Siebzehnfache übertroffen würden. Oktober-Höchsttemperatur für Berlin: 127,4 Grad Fahrenheit. Wasserstandpegel Hamburg-Sankt-Pauli: 120 Inches …

Doch zurück zu meiner persönlichen Problematik. Sie begann mit der Einführung der sogenannten digitalen Gesundheitskarte durch unseren damaligen leierkastenstimmigen, angeblich kompetenten Minister Karl Lauterbach. Die Geburt des gläsernen Homo Digitalis jeglichen Geschlechtes verlief überraschend schmerz- und widerstandslos. Ich hatte als Früh-Boomer im vergangenen und gegenwärtigen Jahrhundert Volkszählungsversuche, Cookies und Bankenschnüffeleien noch mit hoch idealistischer Radikalität boykottiert. Oder durch Teilnahme an Ostermärschen und Wehrdienstverweigerung sogar die Positionierung von amerikanischen Pershing-Raketen in Westdeutschland verhindert! Dreckige Endlagerfantasien für radioaktiven Müll in Wackersdorf oder Assen und die Erweiterung des Braunkohletagebaus Garzweiler durch Baumhüttenübernachtung schon Gicht geplagt entscheidend verzögert.

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Das Gesetz zur Einführung der Sammlung aller Daten eines Menschen auf einem Chip – angeblich im Dienste der Patientenschaft und vordringlich der Rationalisierung des maroden Gesundheitswesens dienend – glitt widerstandslos wie dick mit Vaseline beschmiert durch Körper und Geist unserer Volksvertretungspersönlichkeiten in allen Kammern. Geschickt wurde damals auch das Scheitern der männlichen Fußball-Nationalmannschaft bei der „Euro zu Hause“ genutzt. (In der Vorrunde zwei Niederlagen: 1:9 gegen Liechtenstein, 0:4 gegen San Marino.) Die Ausweisung des Trainers Julian Nagelsmann nach Katar gegen eine Ablöse von drei Milliarden (damals noch:) Euro half als wirksamer Aggressionsblitzableiter. Begleitet von zahlreichen Schlag-An- und Überfällen mit und ohne Maßkrug aus verständlichem Volkszorn vor allem in Bayern.

All dies konnte selbst ich als erfahrener volkskundiger Seismograf mit soliden Grundkenntnissen im Computerwesen und bekannt launiger Kommentator erst soziologisch und sozialpolitisch korrekt einordnen, als ich zuerst bei meinem Arzt, dann auch bei meinem Apotheker im Rahmen einer Fußwarzen-Diagnose und -Behandlung je zwei mir unbekannte Datenlesegeräte sah.

Neugierig, wie ich immer noch bin, fragte ich nach dem Sinn. Es seien Erfassungsgeräte für die seit zwölf Jahren mit ein paar Milliarden Entwicklungskosten leider nun gesetzlich vorgeschriebene elektronische Gesundheitskarte. Jeder Fitz an Feststellung, jede Diagnose, jede Verordnung, die Ergebnisse einer jeden Anwendung oder Untersuchung werden auf dem Chip der Karte (und später wohl heimlich auf dem Großrechner des Gesundheitsministeriums) gespeichert. Zwei Geräte seien leider nötig, weil es immer noch Sturköppe gebe, die ihre Daten nicht weitergeben wollten. Ein Trick hülfe: Das zweite Gerät verwandle die Daten in einen angeblich verschlüsselten QR-Code, der nur nach Freigabe des 19-stelligen Passwortes (muss vier Zahlen und vier unterschiedliche Sonderzeichen enthalten) von der medizinischen Person des Vertrauens einmalig ausgelesen werden kann.

Ich verbiete natürlich die Speicherung und lasse mir so einen Code für eine Warzensalbe geben. Gehe zu meinem Apothekerfreund, der den Code einliest. Und herzlich zu lachen beginnt. Er dreht den Bildschirm seines Compis zu mir, und ich sehe: Nasentropfenabhängigkeit, Platt- und Schweißfüsse, grauer Star, Alkoholabusus, daraus folgend psychologische Auffälligkeiten. (Podcast-Beratung schonungslos durch Dr. Hirschhäusl angebracht), Suizidgefahr dritter Klasse, (Jammern, Kritisieren, Unzufriedenheit), – Seite eins von sieben, bitte weiterblättern … Das schenke ich Ihnen, aber nicht mir. Die KI meiner Krankenkasse hat sich zur (Nicht-)Beantwortung meiner dringlichen Fragen die Stimme meiner verstorbenen Mutter draufprogrammiert – und sagt mir warmherzig bedauernd voraus, dass meine Fußwarzen demnächst auch noch Glatze, Nase und Hände befallen würden. Die Auskunft koste 200 Dollar. Eine Therapie sei angesichts meiner finanziellen Verhältnisse weder sinnvoll noch möglich. Tags drauf radle ich zu einer ländlichen Wiese, die trotz der Erderwärmung noch etliche hitzeharte Blüten treibt. Ich pflücke Löwenzahn und trage die Milch auf meine Fußwarzen auf. Die werden schwarz. Soll helfen, hat mir meine Großmutter vor gut 70 Jahren empfohlen. Mal sehen …

Theo Geißler ist Herausgeber von Politik & Kultur

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