Ich habe schon oft in dieser Kolumne geschrieben, dass es unmöglich ist, Komposition zu unterrichten, ohne sanft auf die jeweiligen psychischen Situationen der Studierenden einzugehen. Es ist kein falsches Klischee, dass in künstlerisch-kreativen Berufen psychische Probleme sehr häufig sind – wir haben und hatten Studierende mit schweren Depressionen bis hin zu Schizophrenie, manche sind suizidgefährdet oder erleben extreme Stimmungsschwankungen. Das ist sehr eng mit der kompositorischen Arbeit verknüpft, denn sehr oft ist es gerade die große Sensibilität, die man als Künstlerin und Künstler braucht, die einen besonders an der Welt oder sich selbst leiden lässt.
Triolen gegen Traumata
Man hat also als Lehrer eine schwierige Verantwortung – einerseits muss man um die Seelenzustände der Studierenden wissen, um nicht unbedacht mit einem falschen Wort eine Krise auszulösen, gleichzeitig gehen einen die privaten Lebensumstände der Studierenden nur bedingt etwas an und man kann als Kompositionslehrer sicher nicht die Arbeit von zum Beispiel Fachärzten ersetzen.
Worüber weniger geredet wird, sind die Traumata, die absolut alle Menschen auf die eine oder andere Weise kennen, ohne deswegen gleich als psychisch gefährdet zu gelten. Je älter man wird, desto mehr merkt man, dass wir eigentlich alle unter Verletzungen leiden, die uns vielleicht irgendwann im Leben zugefügt wurden, meistens in der Jugend. Das ist mir gerade eben noch einmal bewusst geworden, als ich mit der Podcasterin und Dichterin Sabine Bergk über meine eigene Geschichte eines abwesenden und meine Existenz leugnenden Vaters gesprochen habe, die ganz sicher auch eine Rolle bei meinem Werdegang als Komponist gespielt hat. Das ging so weit, dass mein Kompositionslehrer -Killmayer mir einmal im Unterricht sagte, er würde sich meinen Vater gerne mal „vornehmen“, weil er intuitiv merkte, dass mich diese Geschichte geprägt hat.
Aber meine eigene Geschichte ist keineswegs etwas Besonderes oder Seltenes. In den vielen Gesprächen, die ich mit Kolleginnen oder Kollegen führe, erfahre ich von ganz ähnlichen Konstellationen, und das ist auch ganz sicher außerhalb der Kulturszene so. Fast alle Menschen kennen entweder eine abwesende Mutter oder einen abwesenden Vater (letzteres ist wesentlich häufiger), Konkurrenz und Eifersucht unter Geschwistern, oder sind in ungewöhnlichen familiären Konstellationen aufgewachsen. Die „normale“ Familie, in der alles absolut ausgeglichen ist und es keinerlei Konflikte gibt, ist vielleicht sogar etwas, das es überhaupt nicht gibt.
Da dies so gängig ist, ist es meine Pflicht als Lehrer, mich in diese Hintergründe zumindest ansatzweise einzufühlen. Wenn mir zum Beispiel ein junges „Wunderkind“ vorgestellt wird, ist es essenziell, sowohl mit dem Kind als auch mit den Eltern Einzelgespräche zu führen, da ich erfühlen muss, ob das junge Talent wirklich aus eigenem Antrieb Komposition studieren will, oder dies eher Wunsch der Eltern ist. Letzteres führt meistens in irgendeine Form von Unglück bis hin zum Studienabbruch, daher muss man das dringend früh eruieren.
Auch bei Bewerbungsgesprächen frage ich sehr oft nach den familiären Umständen. Ich muss zum Beispiel wissen, ob eine Bewerberin aus einem familiären Umfeld kommt, in dem ihr Studium voll unterstützt wird, oder ob sie es gegen den Willen der Eltern angeht. Bei all dem gibt es keinerlei Allgemeinrezept, jede/r Studierende ist verschieden und immer wieder lerne ich in diesen Prozessen dazu. Es spielt definitiv eine Rolle beim Anlegen meines Unterrichtskonzepts.
Wenn zum Beispiel ein Student aus einem Umfeld mit starkem Leistungsdruck kommt, wäre es falsch, genau dies im Unterricht zu spiegeln. In so einem Fall müsste ich versuchen, diesem Studenten Freiräume aufzuzeigen und ihm helfen, sich von Zwängen freizumachen. Es kann aber auch genau andersherum sein.
Kompositionsunterricht bleibt eine ganz spezielle Herausforderung, bei der Einfühlungsvermögen und auch der Vergleich mit der eigenen Biografie und den eigenen gemachten Fehlern eine Rolle spielen. Wenn Studierende aufblühen und ihre Verletzungen überwinden, macht es mich unendlich glücklich.
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