Die Herausforderung, den 200. Geburtstag von Giuseppe gebührend zu würdigen, hat der Opernbetrieb auf ganzer Breite angenommen. Von beiden Ufern des Atlantik bis zum Ural und zur Adria. So gut wie kein Musiktheater hat versäumt, sich intensiv mit dem Œuvre des Maestro zu befassen und dabei nach Möglichkeit auch „Neudeutungen“ ins Werk setzen zu lassen. Überwiegend musste hierfür das bekannte Septett der „Highlights“ von „Nabucco“ bis „Falstaff“ herhalten. Aber auch „Raritäten“ kamen „auf den Prüfstand“.
Am Theater an der Wien etwa – um mit dem markantesten Ereignis an diesem Frontabschnitt zu beginnen – „Attila“. Der nach langer schwerer Krise wieder erholt wirkende Peter Konwitschny löste am Naschmarkt mit Sprechblasen und einem schrillen Comedy-Comic zur musikalischen Hunnenschlacht eine lautstarke Publikumsrandale aus. Sie wirkte herzerfrischend. Auch andere Häuser berücksichtigten die eine oder andere Arbeit aus den „Galeerenjahren“ des Komponisten. Die Staatsoper Hamburg ließ unter musikalischer Leitung der Chefin Simone Young „La battaglia di Legnano“ mit ihrem hochmittelalterlichen Plot, einem schwertschwingenden Selbstmordkommando und ausgiebigem Heldentod von David Alden als hochtönendes Rühr- und Röhrstück in Szene gehen. Ausgeblendet wurde mit dem einseitigen Augenmerk auf die Liebesintrige und deren psychischen Konnotationen, dass der vom Werk hochtönend gepriesene Wertekanon bei genauem Zuhören so gut wie allen Zuschauern als anachronistisch und obsolet, wenn nicht gar sittenwidrig vorkommen müsste. Doch im Opernhaus dürfen sich die Herzen noch einmal an ungebrochenem Hurrapatriotismus wärmen.
Gérard Mortier behielt Recht, als er unlängst in einem emphatischen und streitbaren Text („Viva Verdi“) diagnostizierte, wenige Komponisten seien „auf so bedauerliche Weise vom Groß- und Kleinbürgertum verein-nahmt worden“ wie er. Als probatestes Mittel der Entschärfung und Neutralisierung gewaltförmiger und blutrünstiger Stücke scheint inzwischen, sie in ein Theater der Entstehungszeit des Werks zu transponieren und mit Fräcken und Zylindern zu kostümieren. Zahnlose Opas können niemand mehr beißen. Aber nerven.
Giuseppe Verdis Vormachtstellung auf dem Hauptfeld des Musiktheaters scheint im Jahr seines zweihundertsten Geburtstags durch nichts und niemand ernstlich angefochten, weder durch seinen Landsmann Puccini noch durch Wagner oder Strauss. Sein Werk boomt dauerhaft. Das ist alles andere als selbstverständlich angesichts der konjunkturellen Schwankungen, denen das Œuvre anderer großer Komponisten wie Monteverdi oder Meyerbeer unterlagen. Bei aller Anerkennung und fortdauernder Wertschätzung für die Italianità des Tons wird der Maestro jedoch längst nicht mehr – wie durchgehend noch bei den Zentenar-Würdigungen 1913 – primär als Repräsentant der italienischen Nation und Kultur wahrgenommen, sondern als internationaler Künstler von Weltrang.
Exemplarisch war im Fall Verdis der Übergang der künstlerischen Repräsentation des Nationalen zum Fluidum mit geopolitischer Referenz zu beobachten. So ist nicht zuletzt bemerkenswert, dass sowohl das Teatro la Fenice in Venedig heuer seine Jubiläumsaktivitäten mit einem Verdi/Wagner-Doppelabend eröffnete als auch die Scala in Mailand die beiden musikalischen „Jahresregenten“ symmetrisch berücksichtigte – accompagniert mit denkwürdig antiquiert anmutenden Protesten von Teilen des Publikums und der Presse. Die musik-theatrale Balance war südlich der Alpen längst überfällig und im Prinzip gut, auch wenn die Produktionen im Einzelnen manche Desiderate offenbarten.
Im Theater fand ein bedeutender musikalischer Nachtrag zuletzt anlässlich des vorangegangenen Verdi-Gedenkjahrs 2001 (zum 100. Todestag) statt. Unter Leitung von Ingo Metzmacher und in Regie von Konwitschny rekons-truierte damals die Hamburgische Staatsoper eine große fünfaktige französische Fassung des „Don Carlos“ – mit Passagen, die der Komponist bereits während der Endproben für die Uraufführung 1867 in Paris ausschied. Vollen dramatischen und insbesondere auch musikalischen Sinn gewinnt das Werk tatsächlich nur mit einer derart ausladenden fünfaktigen Version. So war es nur konsequent, dass Antonio Pappano sich heuer in Salzburg für eine ins Italienische übersetzte Fassung im Götterdämmerungs-Ausmaß entschied.
So bleibt – es waren die intensivsten Verdi-Bühnenereignisse im Jahr 2013 – auf Carsens „Rigoletto“ hinzuweisen und Tatjana Gürbacas neue Deutung des „Rigoletto“ in Zürich. Die Regisseurin hat diese viel strapazierte Oper bereits 2007 in Graz inszeniert, ihre Sichtweise aber in bemerkenswerter Weise geschärft: Der Männerriege stellt sich Rigolettos Tochter Gilda als Jugendliche von heute gegenüber. Sie versteht den Vater um den Finger zu wickeln und ganz eigene Vorstellungen von Selbstverwirklichung zu entwickeln. Es ergab sich eine bedeutende Studie über das Subjektive in einer durchformatierten Gesellschaft.
Bemerkenswert erscheint, dass insgesamt so wenig Beachtung fand, was Mortier jetzt noch einmal als „politische Botschaft“ des Verdischen Œuvres in Erinnerung rief (dass es „Mitgefühl mit allen Männern und Frauen erklingen lässt, die unter Terror, den sozialen Verhältnissen und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen leiden“) insgesamt so wenig Beachtung fand. Offensichtlich soll und will keine ernsthafte Beunruhigung im Verdi-Land sein. Dieses Opernkontingent des 19. Jahrhunderts, allemal übersetzungs- und interpretationsbedürftig, scheint heutigen Verkehrs- und Ruhigstellungsformen ausgeliefert, die weit weniger Agens für Innovationen sein wollen als medial verwertbar im Zuge einer quietistisch-unterhaltsamen Jubiläumskultur.