Genau vor einem Jahr übertitelte der damalige Chefredakteur Juan Martin Koch seinen Leitartikel mit „Raus aus dem Kokon“– Grob gesagt ging es um das Live-Musikleben post COVID-19. Inzwischen hören und schauen wieder tausende Menschen bei Festivals und anderen Events (siehe unser Dossier auf den Seiten 15 bis 17). Und was wurde aus den digitalen Angeboten, die während der Pandemie aus dem Boden geschossen sind? Waren da nicht auch sinnvolle Einrichtungen dabei? Mit diesen Fragen befasste sich am 18. August eine Tagung des Landesmusikrats Nordrhein-Westfalen unter dem Titel „Musikleben und Digitalität“. Unser Redakteur war dabei.
Was von der Digitalisierung übrig blieb
Die Digitalisierung durchzieht alle Bereiche von Gesellschaft, Alltags- und Berufsleben. Bildung, Kultur und Musik erfuhren jedoch erst während der Corona-Pandemie einen bis dato beispiellosen Digitalisierungsschub. Wir erinnern uns: Ab März 2020 wurden alle Spielstätten und Clubs geschlossen sowie Veranstaltungen, Festivals und Tourneen abgesagt. Nach kurzer Schockstarre gab es eine Flut an Live-Streamings, Podcasts, Blogs, Chats, Newslettern, Videokonferenzen, Online-Auftritten und -Pinnwänden. Konzerte, Unterricht, Seminare und Proben fanden nicht mehr ortsgebunden statt, sondern im Internet. An die Stelle hektischer DIY-Heimarbeit mit schlechter Qualität traten bald professionelles Equipment, Personal, mediengerechte Darstellungen und Möglichkeiten für Bezahlung, Spenden, Interaktion, Chats, Breakout-Rooms und Hybridisierung. Als sich das Musikleben in die neue Normalität transformiert hatte, war die Pandemie vorüber und alle wollten wieder zurück zur alten Normalität: gemeinsam leibhaftig Musik erleben.
Vor diesem Hintergrund stellte der Landesmusikrat NRW im Rahmen seiner Kölner Tagung „Musikleben und Digitalität“ die Frage: „Was retten wir an Digitalität aus der Pandemie ins neue Zeitalter?“ Zu Anfang bekannte sich die Ministerin für Kultur und Wissenschaft NRW Ina Brandes zur weiteren Landesförderung der Digitalisierung. Thomas Hanz stellte das von ihm geleitete Programm „Musikschule.digital.NRW“ vor, mit dem der Landesverband der Musikschulen dank Landesmitteln öffentliche Musikschulen mit Technik und Fortbildungen ausstattet. Musikjournalistin Carolin Schwarz benannte Veränderungen, die bleiben: Streamings sind Standard geworden; bei analogen Produktionen werden digitale Weiterverwertungen konsequenter mitgedacht; Fans, Netzwerke und Communities werden gezielter angesprochen; die Notwendigkeit zu Marketing und Selbstdarstellung im Internet wächst weiter. Aber Pay-Tools haben sich bei kleinen Veranstaltern nicht durchgesetzt, und die Kreativität beim Ausprobieren neuer Formate hat wieder abgenommen.
Ryan Rauscher – vormals bei SONY Analytiker von Streaming-Daten – plädierte dafür, die weltweiten Einnahmen für Musikstreams (12,6 Milliarden Euro in 2022) nicht wie bisher nach absoluten Click-Zahlen an die Urheber auszuschütten, sondern nach dem User-Centric-Pay-System (UCPS) gemäß der Reichweite, die ein Stream bei möglichst vielen verschiedenen Usern erreicht. Komponist Michael Edwards skizzierte Etappen der langen Geschichte digital erzeugter Musik seit den 1950er-Jahren und den Paradigmenwechsel im postdigitalen Zeitalter, wo das Digitale heute so selbstverständlich ist, dass nur noch auffällt, wenn es fehlt. Und inzwischen ist auch KI – so Matthias Hornschuh – kein Science Fiction mehr, sondern „Markteintritt“. Daher müssen jetzt belastbare Weichen für die juristische und finanzielle Neuregelung von Urheber- und Nutzungsrechten gestellt werden.
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