Die Überschrift lässt Großes erwarten. Zwei Pianistinnen, neunzig und hundert Jahre alt, halten Rückschau auf ihr Leben. Ihre Erfahrungen scheinen so exemplarisch zu sein, dass die Künstlerinnen vom Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse geehrt wurden und die nmz als musikspezifisches Mitteilungsblatt von anspruchsvollem Niveau eine ganze Seite ihrer Märzausgabe zur Verfügung stellt. Wer allerdings einen tieferen Einblick in die künstlerische Karriere zweier Frauen am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erwartet, wird enttäuscht. Wie sie wurden, was sie sind, erfahren wir eher en passant zwischen den weitläufigen Erklärungen zu einer von Missgunst freien „Frauenfreundschaft“ (als ob Frauenfreundschaften per se von Neid und Missgunst geprägt seien) und der Schilderung eines vom Terror geprägten persönlichen Schicksals.
Wie es dazu kam, dass beide Künstlerinnen in einer Zeit, die mit klaren Rollenzuweisungen operierte, öffentlich wahrgenommen wurden, erfahren wir nicht. Aus welchen Familien kamen sie? Wer legte den Grundstein zur künstlerischen Ausbildung? Wo genau konzertierten sie? Welche Literatur spielten sie? Wie haben sie die Komponisten ihrer Zeit beeinflusst? Offene Fragen, die mit dem Satz befriedigt werden: „Für die Geschichts- und Musikforschung sind sie (Alice Herz-Sommer und Edith Kraus) von großer Bedeutung, da sie persönlich mit den Komponisten Viktor Ullmann, Pavel Haas, Gideon Klein, Hans Krasä und Karel Reiner aus der Prager Zeit und in Theresienstadt sehr gut bekannt waren. Victor Ullmann schätzte beide Pianistinnen sehr. Alice wurde die 4. Sonate gewidmet, Edith spielte die Uraufführung der 6. Klaviersonate in Theresienstadt.“
Dass Viktor Ullmann Handküsse verteilte, wie Alice „kichernd“ erzählt, scheint mir von nachrangiger Bedeutung zu sein. Ebenso Ediths „überraschter“ Kommentar, dass er sich das in Theresienstadt wohl abgewöhnt habe.
Was aber machte die Freundschaft zwischen den Komponisten, die gerade wiederentdeckt werden und ihren Interpretinnen so wertvoll, dass sie von allgemeiner Bedeutung sind? Haben sie vielleicht bei der Umsetzung klanglicher Vorstellungen mit ihren klaviertechnischen Möglichkeiten beraten? Gab es zwischen ihnen fruchtbare Arbeitsfelder?
Nach dem Krieg wurde Alice Herz-Sommer Gründungsmitglied der Akademie in Jerusalem und Edith Kraus Gründungsmitglied der Akademie in Tel Aviv. Auch hier hätte man gern mehr erfahren über die Aktivitäten der Künstlerinnen. Weiter geht es aber im Text schon wieder mit privaten Befindlichkeiten, wie häufige gegenseitige Wochenendbesuche und die Sehnsucht der Freundinnen aufeinander, als die eine nach London zieht.
„Es gibt so viel zu erzählen, wenn sich zwei Menschen in 67 Jahren so intensiv erleben, wie diese beiden“, heißt es im Schlusssatz. Das trifft auch auf andere lang andauernde innige Beziehungen zu, ohne dass daraus ein Anspruch auf öffentliche Würdigung abzuleiten ist. Mir scheint der Artikel zu schwanken zwischen der Annäherung an zwei sehr alte Frauen, die im Trubel des zwanzigsten Jahrhunderts um ihr Überleben kämpften und dem Versuch einer Würdigung ihres künstlerischen Weges. Das letzte ist misslungen, das erste in seiner Betulichkeit peinlich. Wer gibt dem Leser das Recht, mit Alice Herz-Sommer und Edith Kraus von Du zu Du zu verkehren?
Der Artikel zerrt die beiden Protagonistinnen auf ein Niveau, das vom Staunen der Autoren über ihr hohes Lebensalter diktiert wird, und im Leser Bilder der skurrilen aber lebenstüchtigen Miss Marple hervorzaubert. Nur würde man Miss Marple nie mit Vornamen anreden.