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Wohlfeil eingerichtet im Sekundären

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Replik auf Peter Niklas Wilsons Kommentar zu Max Nyffelers Kolumne, nmz 5/03
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In der Mai-Ausgabe der nmz beklagte Max Nyffeler in seiner Kolumne unter dem Titel „Wir Verlierer“ europäischen Werteverlust – mit Seitenblicken auf Geoge W. Bush und John Cage. Peter Niklas Wilson erwiderte in der Mai-Ausgabe der Zeitschrift „MusikTexte“ (kurzer Auszug): „Sollte Nyffeler vergessen haben, dass sich die überkommene europäische Musikästhetik mit ihrer Polarisierung zwischen Genie und Normalsterblichen, zwischen Meisterwerk und bloßer Gebrauchsmusik bestens mit so aufklärerischen Bewegungen wie Absolutismus und Faschismus vertrug? Wollen wir wirklich ein neues Pantheon, in dem dann aber auch bitteschön Nono und Lachenmann neben Bach und Beethoven residieren, einen neuen Kanon, der den alten um „La Fabbrica Illuminata“ und „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ ergänzt? Der uns endlich wieder verbindlich sagt, was große Musik mit ganz großem G ist – und was nicht?“ Nikolaus Brass antwortete darauf (leicht gekürzt).

Eine Kontroverse hat sich entzündet, die mit Polemik nicht geizt und offenbar gleich mehrere wunde Punkte berührt. Max Nyffeler hat in seiner Beckmesser-Kolumne in der Mai-Ausgabe der nmz („Wir Verlierer“) auf ein geistiges Vakuum hingewiesen, das sich unter anderem durch die Auflösung des tradierten Werkbegriffs in der zeitgenössischen Kunst freisetzte und gekennzeichnet ist durch Negation der Transzendenz und Verlust des Kanons. Nyffeler hat dieses Vakuum in Verbindung gebracht mit gegenwärtigen Diskussionen um „europäische Schwäche“ gegen „amerikanische Stärke“.

Wo aber Gefahr für unser Selbstverständnis als „Fortschrittliche“ droht, da wächst offenbar die rettende kritische Theorie auch: Peter Niklas Wilson sieht in seiner Entgegnung im Maiheft der Musik Texte (Radical Chic, revisited) wenn nicht gleich den Faschismusgestank, so doch den „kulturkonservativen Muff von mehr als tausend Jahren“, und fragt empört: „Wenn Nyffeler schon so die Negation der Transzendenz in der Kunst und den Verlust des Kanons bejammert – wollen wir dann beides wirklich zurückhaben?“

Ich möchte im folgenden nur auf das Rhetorische dieser Frage eingehen, weil dieser Tonfall mir das Charakteristischste an der ganzen Debatte scheint. Denn das Rhetorische an der Frage impliziert, dass offenbar alle halbwegs Vernünftigen Transzendenz und Kanon nicht zurückhaben wollen, schon gar nicht in der Kunst, und dass die Frage doch schon „erledigt“ sei. Für mich weist das Rhetorische an der Frage aber auf eine uneingestandene Unsicherheit hin, ob denn wirklich alles „erledigt“ ist, ob Nyffeler durch sein Stöbern in der vermeintlichen Mottenkiste nicht doch auf eine unliebsame Wahrheit gestoßen sein könnte: Ist die Feier des Ephemeren, der Karneval der Stunde, das sich selbst erfüllende Konzept, die Überantwortung der künstlerischen Entscheidung an Computer, Zufall, I Ging und die Würfel, sind alle diese „kritischen“ Verfahren und aller intelligenter Konzeptualismus nicht doch nur Zeichen einer grandiosen Impotenz?

Die Gereiztheit, die sich breit macht, wenn – horribile dictu „Leute aus dem eigenen Lager“ – „kritische“ Positionen kritisieren und der Reflex: „Was ist denn mit dem los?“ weisen auf eine erstaunliche Schwäche hin, sich mit der Kritik der Kritik auseinander zu setzen. Die Heftigkeit, mit der reagiert wird, stellt man die „Entsorgung“ der alten Probleme wie Transzendenz und Geschichtlichkeit alles Gewordenen in Frage, erinnert verblüffend an die Heftigkeit, mit der sonst andere „Entsorgungsunternehmen“ reagieren, wenn unbotmäßig auf ein kleines Restrisiko ihrer Entsorgungsaktivitäten hingewiesen wird. Die Frage ist: Wessen hat man sich entledigt, wenn man sich des „Werkes“ entledigt hat? Welches „Risiko“ geht man dabei ein?

Ich behaupte: weil wir uns wohlfeil eingerichtet haben im Sekundären. Weil wir in der Kritik nur noch „Dienstleistungen des Durchschauens und Misstrauens“ (Botho Strauß) erwarten, weil wir so wunderbar politisch korrekt sein wollen und weil es von uns erwartet wird, Begriffe wie „Schöpfung“, „Schöpfer“, „Werk“, „Autor“ nur mit dem Ziel der Auflösung zu hinterfragen und unter einen sehr viel stärkeren Rechtfertigungsdruck zu stellen als beispielsweise Begriffe wie „Erfindung“, „Konzept“. Warum muss „Machen“ sich sehr viel seltener in Frage stellen lassen als „Hervorbringen“? Warum wird die Frage nach der schöpferischen Erfahrung gar nicht mehr zugelassen? Und warum wird über dieses Nicht-mehr-Zulassen so wenig nachgedacht? Offenbar geht es hier um eine stillschweigende „Sprachregelung“, um eine sublime Be- und Entwertung spezifischer individueller Erfahrung durch „neue“, schon weit verinnerlichte gesellschaftliche Normen. Lehrmeinung ist, dass das Verschwinden der Schöpferpersönlichkeit einen unumkehrbaren Prozess der auf Egalität zielenden gesellschaftlichen Emanzipation reflektiert.

Einlass in die ästhetische Debatte, so scheint es, erhält nur der, der vorher eine Erklärbarkeitsverpflichtung unterzeichnet hat: Im ästhetischen Diskurs gibt es keine dunklen Punkte mehr, was Dunkel scheint, ist zu entsorgen! Hierarchie, vertikale Ausrichtung des Kunstwerks, a-rationale Logik lebendiger Strukturen, undurchdringlicher Nimbus des Schöpferischen: alles kompatibel mit nicht-aufgeklärten, absolutistischen und gar faschistischen Systemen, also weg damit! Für die Kritik darf es nichts Unverfügbares mehr geben! Aber was ist im Zuge des großen dekonstruktivistischen Reinemachens unter der Hand geschehen? Was passiert, wenn wir der Kunst alles Unverfügbare absprechen und entziehen?

Mir ist bewusst, dass man schnell in schlechte Gesellschaft geraten kann, stellt man diese Fragen. Aber für mich steht die Entleerung der Kunst von aller „vertikalen Ausrichtung“ (Steiner) in Zusammenhang mit totalitären Tendenzen des sich jetzt voll entfaltenden Erfahrungs-Kapitalismus, der die individuelle Psyche nicht mehr durch die Sucht nach Waren besetzt, sondern durch die Erfindung und Vermarktung von industriell hergestellten Erfahrungswelten. Dazu bedurfte es zuerst der medialen Entkernung des Individuums von aller eigenen Erfahrung, dazu gehört auch die Um- und Abwertung bestimmter Erfahrungsweisen durch den intellektuellen Diskurs. Das Totalitäre herrscht und manifestiert sich heute (bei uns) nicht mehr (so sehr) durch autoritäre Strukturen, sondern es etabliert sich wie von selbst als das medial hergestellte und kontrollierte unbewusste Einverständnis der Individuen, sich nur noch bestimmten, durch die allgemeine Meinung kodifizierten Erfahrungen auszusetzen, bestimmte Erfahrungen zuzulassen, und diese als die eigenen auszugeben und andere zu entwerten und zu verwerfen.

Unversehens hat der Prozess, der das Individuum von den „Schlacken seiner Unmündigkeit“ befreien sollte, das heißt, es von seinen familiären, sozialen, ethnischen und religiösen Bindungen löste, den neuen Typ des Schicksallosen hervorgebracht, geboren ist ein seines Schicksals entledigtes Subjekt, geschaffen die geschichts- und erfahrungslose menschliche Stanzform. Kunst war wohl immer ein Medium, sich seines Schicksals bewusst zu werden.

Insofern ist „schicksallose“ Kunst heute der wahrhaftige Spiegel unserer Verhältnisse. Aber wollen wir nur den Spiegel in der Kunst oder nicht doch auch den Wegweiser? (Rhetorische Frage!)

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