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Woran Deutschland krankt

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Leserbrief zu Theo Geißlers Leitartikel „Reform-Stau“, nmz 9-11
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Ihr Artikel „Reform-Stau“ in der neuen musikzeitung vom letzten September hat in mir ein Gefühl großer Erleichterung ausgelöst. Endlich spricht jemand öffentlich aus, woran unser heutiges Deutschland krankt. Das ist nicht mehr das Land der Dichter und Denker, ein von Kunst und Kultur beseeltes Land! Das ist ein Land der Oberflächlichkeit und der Profitgier geworden, bewohnt von Menschen, denen echte geistige Wertmaßstäbe und damit wirkliche Werte immer mehr abhanden kommen.

Wenn man als Musiker, wie ich, aus einem von Kultur geprägten Land wie Österreich kommt, kommt man in Deutschland aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. So musste ich, 1988 aus Wien nach Hannover kommend, um hier meinen Beruf auszuüben, feststellen, dass der Stellenwert der Kunst und insbesondere der Musik nur von ganz wenigen Idealisten hochgehalten wird. Nach dem, was ich seither in Deutschland erlebt habe, halte ich es zwar für denkbar, dass der Süden des Landes den Musen mehr zugetan ist als der rauhe Norden, aber auch bei Ihnen richten sich die allgemeinen Wertmaßstäbe zunehmend nach „großen“ Namen und teuren „Events“ – wie Sie es ja ganz deutlich in Ihrem Artikel vermerken. Was viel Geld kostet und von den Medien hochgespielt wird, muss einfach gut sein. Hochwertige Kunst wird, wenn sie still – einem Merkmal der wahren Kunst! – und im Bewusstsein ihres Wertes bescheiden daherkommt (denken Sie nur an Franz Schubert!), im Getöse der Gier nach Neuem und Spektakulärem einfach nicht mehr wahrgenommen. Ich sehe darin eine Folge der Vernachlässigung einer nachhaltigen, von kulturellen Werten geprägten Erziehung, wie wir sie heute auf der ganzen Linie beobachten können. An den Schulen werden wirklich „bildende“ Gegenstände wie Malerei oder Musik immer mehr in die Ecke gedrängt. Und dass niemand aufsteht und einmal darauf hinweist, dass deutscher Musikernachwuchs aus den Musikschulen kommen muss, die kaum mehr Geld für künstlerische Ausbildung, für die Anschaffung von Instrumenten oder andere künstlerische Projekte haben, das ist nicht nachvollziehbar. Und die Musikhochschulen, die direkt von dieser Misere betroffen sind, betreiben eine Art pädagogischer Nabelschau, begegnen jeder Reformidee, so diese aus der kleinen Schar aufrechter Künstler und nicht von der Seite der Musikwissenschaft daherkommt, immer mit größter Skepsis und füllen ihre Klassen – von Ausnahmen abgesehen – ohne nachzudenken, und ohne dass auch nur irgendwer dafür Verantwortung übernehmen würde, mit gut vorgebildeten jungen Eleven aus Asien oder anderen europäischen Ländern, in denen die musischen Fächer und damit auch die entsprechende Vorausbildung einen höheren Stellenwert haben.

Folglich kommt uns der eigene Musikernachwuchs immer mehr abhanden, und unsere Orchester beziehungsweise Ensembles ersetzen diesen Mangel mit Musikern aus dem Ausland. Um zu diesem Thema noch ein konkretes Beispiel zu erwähnen, möchte ich darauf hinweisen, dass die Ausbildung junger Musiker (oder letztendlich auch nur der Musikliebhaber, die unser zukünftiges Publikum darstellen, denn das brauchen wir ja auch!) in Frankreich, an den regionalen Konservatorien, um vieles besser ist als in Deutschland. Folge: An den beiden französischen Musikhochschulen (Conservatoires Nationales Supérieures de Musique) in Paris und Lyon ist das Spielniveau deutlich höher als hier, und die französischen Orchester haben keinerlei Nachwuchsprobleme.

Ich stelle mit Trauer und Bestürzung fest, dass dieses Deutschland, einst das geistige Zentrum der westlichen Welt, im Bereich Musik heute von Ländern wie Frankreich, England, Skandinavien(!) und nun auch von den ehrgeizigen Schulen Asiens überholt und an die Wand gespielt wird. Eines Tages werden wir ein kulturelles Entwicklungsland sein und das Musikleben wird getragen werden von den Lang Langs dieser Welt. […]

Hatto Beyerle, Benthe

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