Die digitale Revolution verändert bekanntlich nicht in erster Linie die physikalischen Dinge selbst – ein Schuh bleibt trotz Computer ein Schuh –, sondern ihr Verhältnis zum Menschen und das Verhältnis der Menschen untereinander. Es sind die physikalisch schwer greifbaren Erscheinungen, letztlich die Lebensprozesse selbst, die revolutioniert werden. Von daher verwundert es nicht, dass die klingende Musik, symbolisches Abbild dieser Lebensprozesse und flüchtige Alltagserscheinung in einem, ständig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, wenn von den kulturellen Auswirkungen der Digitalisierung die Rede ist.
Doch bei den aufgeregten Diskussionen um wildgewordene Konsumspießer, die sich Piraten nennen und mit kruden Argumenten ein Recht auf „ihre“ Songs einfordern, ist in jüngster Zeit ganz in Vergessenheit geraten, dass das genuine Unterhaltungsmedium der digitalen Ära gar nicht die Musik, sondern das Computerspiel ist. Es ist mit dem Computer so verwachsen wie das Klavierspiel mit dem Klavier. Entstanden mit Atari und Commodore, bildet es heute die Basis für einen Industriezweig, der mehr Umsatz macht als die globale Musikindustrie, auch mehr als Hollywood. Zentren der Produktion sind die USA und Japan; China ist auch hier im Kommen, Europa auch hier eher unwichtig. Was ins allgemeine Bewusstsein meist nur im Zusammenhang mit Stichworten wie Gewaltdarstellung oder Jugendschutz dringt, ist zu einer weltweiten Realität geworden, die die Menschen in ihrer Freizeit beschäftigt und prägt – quer durch alle Altersklassen, sozialen Schichten und Kulturen hindurch.
Solche Fakten ins Bewusstsein eines Publikums gerückt zu haben, das sich sonst fast nur mit gehobener Kultur, sprich E-Musik und Neue Musik, befasst, ist das Verdienst des Münchner Pfingstsymposions und seiner Leiterin Ulrike Trüstedt. Für die diesjährige Veranstaltung, die unter dem Motto „Spiel“ stand, hatte sie mit Winnie Forster und Anatol Locker auch zwei Computerspiel-Experten eingeladen, die nun dem staunenden Publikum diese fremde Welt digitaler Vergnügungen etwas näher brachten. Das gab nicht nur Anlass zu skeptischen Fragen und Kritik am neuen Medium, sondern auch zu einer kritischen Selbstbefragung.
Letzteres ist nicht ganz unwichtig, denn das Computerspiel ist wie Devisenhandel, Billigtourismus oder Aids eine weltweite Realität und lässt sich nicht aus der hohen Warte des europäischen Bildungsbürgers wegdiskutieren. Die Fragen müssen wir deshalb immer auch an unsere eigenen Begriffe und Wertvorstellungen richten, selbst auf die Gefahr hin, dass unser ohnehin schon schwer angeschlagenes, klassisch geprägtes Kulturverständnis weiter ins Wanken gerät.
Und das sind einige dieser Fragen: Wie ist ein allgemein zugängliches Medium zu beurteilen, das jede Art von Inhalt, ungeachtet seines erzieherischen Werts, auf spielende Weise in die Köpfe hinein transportieren kann? Wie passt das zu unserer traditionellen Vorstellung von Spiel, die nicht zuletzt auf Schillers Idee von der Kunst als Erziehung zur Freiheit basiert? Eine Gegenposition, die beim Münchner Symposion durch den Komponisten Nikolaus Brass formuliert wurde. Weiter: Kann man bei den anspruchsvolleren Computerspielen überhaupt noch von einer neuen Kunstrichtung sprechen, oder werden hier durch die standardisierte Software nicht einfach konditionierte Verhaltensweisen eingeübt, die das spielende Individuum versklaven statt in Freiheit setzen? Aber was ist, wenn die Abermillionen von Usern beziehungsweise Spielern an solchen Fragen gar nicht interessiert sind und „einfach spielen“ wollen? Was ist das Faszinierende an der Interaktion mit einer digitalen Maschine, und wie wird das Verhalten des Individuums in der Wirklichkeit dadurch beeinflusst? Und schließlich: Welche Rückwirkungen hat das alles auf unser traditionelles Verständnis von Kultur? Bricht da nicht eine Gesellschaft in einzelne Segmente auseinander: hier die traditionslosen Schichten der Computerexistenzen, die ihre Bildung ausschließlich vom Bildschirm beziehen, dort die aufgeklärten Bücherleser und Konzertbesucher, und als Begleitmusik vom Horizont her das Toben der religiösen, vom Fortschritt überrollten Massen?
Vielleicht sind das alles nur Probleme für eine aussterbende Generation von Analogmenschen, und in 50 Jahren wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen Counter-Strike und Bruckner – wenn es die dann noch gibt. Aber es könnte auch sein, dass der menschliche Geist die von ihm entfesselten Produktivkräfte noch einmal in kontrollierte Bahnen lenkt und damit seine Selbstabschaffung hinauszögert. Da kommt einem unwillkürlich wieder die hübsche Geschichte des Analogdichters Goethe vom Zauberlehrling in den Sinn. Nur: Mit dem Oberzauberer, der dort das Desaster in letzter Sekunde verhindert, wollen die heutigen Zauberlehrlinge nichts mehr zu tun haben. Sie fühlen sich emanzipiert.
Mal sehen, wie das Spiel weitergeht.