In der zweiten Märzhälfte gab es in Heidelberg eine Tagung über die Zukunft der Musikfestivals. Die Liste der angekündigten Teilnehmer war imposant, weshalb es sich lohnt, sie in voller Länge zu zitieren: „Zu den Referenten der Tagung gehören unter anderem Intendanten internationaler Festivals und Konzerthäuser wie Markus Hinterhäuser (Wiener Festwochen), Martin Hoffmann (Berliner Philharmoniker), Ilona Schmiel (Beethovenfest Bonn) und Christoph Lieben-Seutter (Elbphilharmonie und Laeiszhalle Hamburg), Gerard Mortier (Teatro Real Madrid) und Thorsten Schmidt (Heidelberger Frühling).
Auch Vertreter aus Wirtschaft und Wissenschaft sowie der Musikbranche sind anwesend: Susanne Keuchel (Zentrum für Kulturforschung), Oliver Scheytt (Kulturpolitische Gesellschaft), Prof. Dr. Heiner Barz (Abteilung für Bildungsforschung und Bildungsmanagement der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf), Peter Gartiser (Geschäftsführer und Partner der METRUM Managementberatung GmbH München), Prof. Dr. Armin Klein (Institut für Kulturmanagement Ludwigsburg), Pius Knüsel (ehemaliger Direktor Pro-Helvetia, Co-Autor „Der Kulturinfarkt“), Dr. Stephan Muschick (Geschäftsführer RWE-Stiftung/Vorsitzender AKS im Kulturkreis der deutschen Wirtschaft im BDI e.V.), Uwe Schroeder-Wildberg (Vorstandsvorsitzender MLP), Stephan Teuber (Gesellschaft für innovative Marktforschung), Prof. Dr. Peter Tschmuck (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien), Steven Walter (PODIUM Junges Europäisches Musikfestival) und Karsten Wenzlaff (Institut für Kommunikation in sozialen Medien IKOSOM).“
Das klingt nach dem Who is Who der deutschsprachigen Musik- und Kulturmanagementprominenz: renommierte Intendanten, Leute am Geldhahn, Soziologen und Universitätsprofessoren – ein Potenzial an Erfahrungswissen, Gehirnleistung und kultureller Macht, das Respekt abnötigt. Gut gestellt waren auch die zur Debatte stehenden Fragen. Demographischer Wandel, Digitalisierung und eine multikulturelle Durchmischung der Bevölkerung wurden als „zentrale Fliehkräfte“ in Kultur und Gesellschaft bezeichnet. Auf sie müsse das Festival der Zukunft reagieren, wolle es in der sich wandelnden gesellschaftlichen Wirklichkeit ein Ort bleiben, wo musikalische Erlebnisse sich mit einem wachen Blick auf die Gegenwart und mit Zukunftsperspektiven verbinden.
Fast konnte man also erwarten, hier würden entscheidende Weichen für das Musikfestival des 21. Jahrhunderts gestellt. Doch geht man die Liste der Teilnehmer durch, wird man stutzig: Wo bleiben eigentlich diejenigen, die die Inhalte liefern, die Komponisten und ihre Interpreten? Kein Name weit und breit. Das erinnert ein wenig an die Praxis hochmögender europäischer Politiker und ihrer Experten, weitreichende Beschlüsse zu fassen in der Hoffnung, dass die Menschen, die es betrifft, notfalls dann schon mitmachen würden. Das nennt sich bekanntlich Fürsorglichkeit, kann aber auch als Arroganz empfunden werden und geht deshalb meist ins Leere, wie man in der Politik hinlänglich beobachten kann.
Gewiss soll man von einem Künstler nicht kompetente Äußerungen zu Fragen des Managements, der Finanzierung oder der Sozialstruktur erwarten; dazu sind in der Tat die Fachleute zuständig. Doch verfügt der Komponist oder die Komponistin über eine Sehweise, die der Manager und Theo-retiker eben nur vom Hörensagen kennt, und die ist genau so wichtig, wenn nicht wichtiger als die Macherperspektive. Es ist ein jahrhundertealter Gemeinplatz, dass es die Künstler und auch die genialen Wissenschaftler sind, die in ihren Werken und Gedanken die Zukunft vorausahnen und vorformulieren. Und nicht die Macher. Denen kommt „nur“ die wichtige Aufgabe zu, die künstlerischen Gedanken zu erkennen und ihnen ein Forum zu verschaffen. Ein öffentlicher Dialog zwischen beiden Seiten wäre deshalb für unsere orientierungslose Zeit eine absolute Notwendigkeit.
Dazu braucht es allerdings auch die richtigen Personen auf der schöpferischen Seite. Keine alten Dagegen-Denker, die in allen Versuchen, neue musikalische Ideen über Konzertsäle und Medien in die Bevölkerung hineinzutragen, nur schnöden Kommerz und Bewusstseinskorruption wittern. Auch keine flotten neuen Pragmatiker, die ihr künstlerisches Denken schon längst an die Lieferbedingungen des Betriebs angepasst haben und verbraucherfreundliche Markenprodukte am Laufmeter fertigen. Und auch keine selbstgenügsamen Materialbastler, deren größte Sorge es ist, ein paar Subventionsbrosamen in ihre Nische zu lenken.
Wen oder was also braucht es? Persönlichkeiten mit einem weiten Horizont, die in der Lage sind, die großen Fragen unserer Zeit zu erkennen und als Künstler dazu in einer Weise Stellung zu beziehen, dass es die Menschen verstehen, an die sich die Musik richtet. Das klingt nach Deutschland sucht den Superstar. Ist es aber nicht, denn es geht nicht um ein Medienspektakel, sondern um die Zukunft der Musik in der Gesellschaft. Wem etwas dazu einfällt, bitte melden. Auch in Heidelberg, vielleicht fürs nächste Mal.