Man muss ihn einfach mögen. Der amerikanische Saxophonist Kamasi Washington bläst eine heiße Kanne (wie die Jazzer früher sagten), ist ein genialer Eklektizist und hat eine wichtige politische Botschaft. Außerdem scheint er ein kräftiger, netter Kerl zu sein. Man könnte sich also an seiner verrückten, größenwahnsinnigen, retrofuturistischen Musik einfach erfreuen – und damit fertig. Wäre da nicht dieser Hype, der um ihn gemacht wird.
Pünktlich am 22. Juni 2018, dem offiziellen Veröffentlichungsdatum, wurde Kamasi Washingtons neues Album „Heaven And Earth“ von den deutschen Medien quasi im Chor abgefeiert. Ich rede nicht von den kleinen Jazzmagazinen, ich rede von den großen Tages- und Wochenzeitungen und ihren Online-Ausgaben. Dabei könnte man meinen, nach dem Dreifachalbum „The Epic“ (2015), der EP „Harmony Of Difference“ (2017) und diversen Live-Auftritten hätten Deutschlands führende Kulturredakteure schon mehr als genug über diesen einen Saxophonisten geschrieben – es gäbe ja noch andere, über die man schreiben könnte. Aber nein: Kamasi Washington rockt die Feuilletons. Die Presse-Promotion darf mit ihrer Arbeit zufrieden sein.
Was konnte man da diesmal wieder alles lesen! Der „Retter des Jazz“ sei er, sein „politisches Gewissen“, er bringe den „Puls der Zeit“ zum Schwingen wie niemand sonst. Das neue Album sei „gigantisch gut“ und „hypermodern“. Für den „Spiegel“ repräsentiert Kamasi Washington eine „neue, junge Spiritual-Jazz-Bewegung“ – er werde bereits „messianisch verehrt“, weiß die Süddeutsche Zeitung. Und „Die Zeit“ meint, die Geschichte des Jazz fühle sich bereits so an: „Erst war da irgendein Typ, dann Miles Davis, dann John Coltrane und jetzt Kamasi Washington.“ Die Frage, ob er ein guter Saxophonist sei, wie sie bei Jazzmusikern sonst obligat ist, wird nicht diskutiert. Eher streitet man darüber, ob das neue Album „zugänglicher“ sei als „The Epic“ oder umgekehrt. Au weia.
Kamasi Washington wird nicht für sein Saxophonspiel gefeiert, sondern für seinen Erfolg. Er ist mit einigen bewunderten kalifornischen HipHop-Stars musikalisch liiert, einem Kendrick Lamar, Flying Lotus, Snoopy Dogg. Also ist er bei einem hippen Pop-Label unter Vertrag und spielt auf großen Festivals vor Tausenden von Zuhörern.
In seinen Stücken montiert er verschiedene Versatzstücke der afroamerikanischen Musik der letzten Jahrzehnte übereinander: P-Funk und modalen Jazz, HipHop-Beats und Psycho-Fusion, CTI-Sound, afrokubanische Percussion und Soul-Stimmen. Er inszeniert sich selbst als Inkarnationsfigur des großen Black-Music-Spirits, komplett mit spiritueller Botschaft, NAACP-Nostalgie und glitzernder Fantasiekostümierung. Er zapft Energie aus der Talmi-Opulenz des P-Funk und der peinlichen Angeberei des HipHop. Er bläst die Besetzungen gigantomanisch auf, treibt die Länge der Stücke ins Hypnotische, stapelt die afroamerikanischen Klischees zu einem Haufen. Man könnte ihn einen Quentin Tarantino der Black Music nennen, weil er wie dieser Regisseur aus sämtlichen Genres zitiert. Doch zu einem Tarantino fehlt ihm der Schockeffekt. Und der Bruch. Und der absurde Humor.
Das neue Album „Heaven And Earth“ beginnt mit der unfreiwillig komischen Titelhymne aus einem Martial-Arts-Film mit dem Kampfkunst-Darsteller Bruce Lee – bei uns ist der Film bekannt als „Todesgrüße aus Shanghai“ (Hongkong 1972). Bombastische Akkord-Riffs, ein Latin-Percussion-Teppich, dann ein raunender Chor, dazu noch säuselnde Streicher, schließlich zwei Solostimmen (Mann und Frau) – der treffende Ausdruck dafür wäre nicht „hypermodern“, sondern „Kitsch“. Natürlich ist das von ihm satirisch gemeint, sollte man denken. Aber nein, das ist der Stil dieser Musik, ihre ästhetische Rahmung – Retropop-Pathos ohne Ironie.
Kamasi Washington betreibt eine Art musikalischer Hollywoodisierung afroamerikanischer Musikformen. Kein Wunder, dass die Rezensenten in den Feuilletons ganz seltsame Assoziationen haben: „Raumpatrouille“, „Hair“, „Star Trek“, „Star Wars“. Die Süddeutsche Zeitung schreibt: „Die Bläser schmettern, der Chor schraubt sich nach oben, die 60-köpfige Formation donnert voran. 120 Fäuste für die Vergeltung.“ Der „Spiegel“ trifft es unfreiwilligerweise ziemlich genau. Kamasi Washington heißt dort „der Yoda des afroamerikanischen Kulturerwachens“.
Wer Kamasi Washington den „Retter des Jazz“ nennt, glaubt offenbar daran, dass der Jazz eine Rettung nötig hätte. Die Jazzszene sei „in Ritualen und Altersrheuma erstarrt“, meint der „Spiegel“ tatsächlich. Für „Die Zeit“ kehrt mit Kamasi Washington endlich der Jazz zurück, „strahlend, schimmernd und schön“. Über die schimmernde Schönheit der (geschätzt) 2.000 anderen Jazzalben, die dieses Jahr erscheinen, ist in den Feuilletons leider eher wenig zu lesen. Immerhin enthält „Heaven And Earth“ einige gute Jazzsoli, vielleicht sogar einige verblüffende. Eingeschmolzen in die Retro-Hollywood-Technicolor-Ästhetik dieses Albums sind sie allerdings nicht mehr als bunte Farbtupfer oder kuriose Schmuckschleifchen.
Mehr als 20 Bandmusiker, dazu ein 26-köpfiges Orchester und einen 13-köpfigen Chor hat Kamasi Washington auf die Beine gestellt, um seine Vision afroamerikanischer Musik-Kontinuität zu feiern. Der raffinierte Größenwahn hat etwas Pubertäres an sich. Und er entspricht nicht unbedingt den Tugenden des Jazz. Das ist auch nicht Jazz, sondern „Pop für Leute, die eigentlich keinen Pop hören“ (SZ). Hoffen wir, dass es wenigstens der afroamerikanischen Sache gut tut.