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Die Argumente der Ohren

Untertitel
Die achte Tagung der Projektgruppe Neue Musik Bremen
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Wie gemeißelt standen die Klagen der mythischen Mahnerin im Kirchenraum. Kassandra sang nicht, sie lamentierte in hoher Falsettlage, untermalt von gebieterischen perkussiven Rhythmen – ein archaisches Klangbild, das nicht auf Gefühl, wohl aber auf Ausdruck zielte. „Kassandra“, in der Lesart von Iannis Xenakis, fabelhaft interpretiert von Jocelyn Desmares und Francois Papirer, war die eindrucksvolle Begrüßung der Projektgruppe Neue Musik Bremen zu ihrer achten Tagung. Kein Gedanke, daß diese Veranstaltung sich dem Thema Mythos weihrauch-schwingend näherte. Mit ihrer Premiere 1991 räumt die Bremer Tagung der theoretischen Reflexion einen ebenso gewichtigen Platz ein wie den Konzerten; Nachdenken und Hören sind idealerweise verknüpft. Die jeweiligen Inhalte pflanzen sich quasi selbsttätig aus offen gebliebenen Fragen weiter; so ist auch das diesmalige Thema Mythos und sein dialektisches Verhältnis zur Moderne ein Ableger der vorangegangenen Tagung, die um Erinnern und Vergessen kreiste. Wieviel Vergangenheit bleibt, unseren technischen Speicherungsmöglichkeiten zum Trotz, lebendig? Welche Rolle spielt im kulturellen Prozeß die Subjektivität? Und welche „Garstufen“ kann eine mythische Erzählung durchlaufen, um bei der titelgebenden kulinarischen Metapher „Das Rohe und das Gekochte“ zu bleibe, die die Veranstalter einem Buch von Claude Lévi-Strauss entlehnten. Freilich interessierte weniger eine idealtypische Gegenüberstellung von roh und gekocht, Natur und Kultur (wie sie der Frankfurter Publizist Micha Brumlik im Rahmen seines Vortrages über Platons Mythenkritik umriß), diskutiert wurden vielmehr die Zustände dazwischen, die unterschiedlichen kulturellen Transformationsprozesse. Entscheidende Impulse lieferten in den Podiumsdiskussionen der mexikanische Komponist Julio Estrada, für den als Mexikaner, als Angehöriger eines Volkes, das gewaltsam von seiner eigenen Kultur abgeschnitten wurde, die Frage nach einer kulturellen Identität besondere Bedeutung hat, sowie Nicolaus A. Huber, der sich sogar zu der Aussage hinreißen ließ, Musik sei nicht aufgeklärt, Logik und Technik würden bemüht, um das Gegenteil zu erzielen. Per se war das Thema zu gewaltig für eine zweieinhalbtägige Veranstaltung, eine bewußte Überforderung, die produktiven Unterdruck beim Zuhörer erzeugte, aber auch die Frustration, keinen griffigen Satz nach Hause mitnehmen zu können. Die unterschiedlichen Facetten der komplexen Thematik kamen am nachdrücklichsten in den Konzerten selbst zur Sprache, etwa in den magischen Momenten der Musik von Giacinto Scelsi („Manto I-III“ mit der Bratschistin Geneviève Renon), den Konzeptstücken von James Tenney und Steve Reich, in der beredten Schlagzeugkomposition „Herbstfestival“ von Nicolaus A. Huber oder in der Konzentration auf „ursprüngliches“, geräuschhaftes Material der Kompositionen Julio Estradas (auratisch gefärbt durch die spanische Sängerin Fatima Miranda). Den idealen Protagonisten hatten die Veranstalter in Iannis Xenakis gefunden: In Werken wie Kassandra, Persepolis oder Persephassa sind elementare Wucht und hochgradige Formalisierung auf verblüffende Weise miteinander verknüpft (auf letzteren Aspekt verwies ein Referat des Musikwissenschaftlers Hans Rudolf Zeller). Neben einer glücklichen Programm- und Interpretenauswahl wurde auch Mut zur Kontroverse gezeigt: Das zentrale Konzert am Samstagabend in der Bremer Liebfrauenkirche folgte einer dramaturgischen Idee des Dirigenten Bernhard Wulff, einige Werke des Abends mit traditionellen mongolischen Gesängen zu verbinden. So berechtigt die Einwände an dieser Art von Einverleibung einer fremden Kultur schienen, so überzeugend war der Klangeindruck. Mitunter läßt sich das Ohr von Argumenten halt nicht überzeugen.

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