Bei seiner 44. Ausgabe hat die Jazzwoche Burghausen sogar mal wieder Schlagzeilen in der Boulevardpresse generiert. Unfreiwillig allerdings. Anlass war ein gut zweistündiger Polizeieinsatz nach dem Auftaktkonzert in der Wackerhalle, mittels dessen Cassandra Wilson bewegt werden musste, die vertragswidrig einkassierten Aufnahmebänder des BR wieder herauszurücken. Was nur das unwürdige Ende eines langen Martyriums der Veranstalter war.
Die vielfach mit Superlativen bedachte Sängerin, Grammy-Gewinnerin und Plattenmillionärin hatte schon vorab trotz eines üppigen Vorschusses auf die noch üppigere Gage monatelang den Vertrag nicht unterschrieben. In Burghausen angekommen, ließ sie alle vereinbarten Termine einschließlich der feierlichen Verlegung „ihrer“ Platte in die „Street of Fame“ platzen (Bürgermeister Hans Steindl erklärte im ersten Zorn gar, er würde das Ding eigenhändig wieder ausgraben). Beim Konzert galt dann presserechtswidrig striktes Fotografierverbot, Wilsons Manager ließ sogar „Verdächtige“ nach versteckten Aufnahmegeräten filzen. „Ich bin 57 und mache, was ich will“, hatte die Diva während des Auftritts gesagt. Wie wahr.
So ganz aus heiterem Himmel traf das Ungemach die Burghausener allerdings nicht. Wilson eilt seit langem der Ruf einer Schwierigen voraus. Und doch ist man bei der Jazzwoche eher als anderswo gewillt, ein Risiko einzugehen. Die Mutter aller bayerischen Jazzfestivals, zugleich eines der ältesten und bedeutendsten Europas, ist ja kein modernes Programmfestival, das einen Trend oder einen bestimmten Aspekt des Jazz beleuchten will. Hier geht es eher genussvoll als intellektuell zu, allen soll etwas geboten werden, den Traditionalisten wie den Avantgardisten, den aufgeschlossenen Laien wie den Fans. Und so sind die Jazzwochen-Veranstalter so etwas wie Katalysatoren und Sammler von Momenten. Jener Momente eines abstrakten, aber intensiven Glücks, wie sie nur die Musik erschaffen kann. Geht es danach, dann war der Festivaljahrgang 2013 ein ausgezeichneter.
Was schon die fünfte Ausgabe des „Europäischen Nachwuchs-Jazzpreises“ unterstrich. Noch nie gab es einen überzeugenderen Gewinner als das lettisch-belgisch-luxemburgische Quartett des 22-jährigen Gitarristen Matiss Cudars, der mit seinen ungemein reifen und farbigen, von überraschenden Wechseln durchzogenen Kompositionen begeisterte. Und damit nicht minder bemerkenswerte Konkurrenten wie das Quartett „Jilman Zilman“ des Nürnberger Drummers Tilman Herpichböhm oder das Trio des französischen Akkordeonisten Laurent Derache – der sozusagen zum Trost den Solistenpreis bekam – hinter sich ließ. Doch auch die großen Namen ließen sich nicht lumpen.
Die hohe E-Gitarrenschule, mit Larry Goldings an der Hammond und Greg Hutchinson am Schlagzeug gruppendynamisch über Country bis Soca improvisierend, zelebrierte wieder einmal John Scofield, der als ausgesucht höflicher und bescheidener Star das genaue Gegenbild zu Cassandra Wilson abgab. Prince-Spezi Larry Graham – die beiden ziehen in Minneapolis als Zeugen Jehovas zusammen von Tür zu Tür – zog einen knalligen Funkrock-Gottesdienst durch, Gregory Porter bestätigte, warum er mit seiner Soul-basierten, aber grenzenlos variablen Stimme als kommender erster Mann im Gesangsfach gehandelt wird und auch Deutschlands Altmeister Klaus Doldinger – dessen Konzert als erstes ausverkauft war – bewies, dass er im Kreise seiner jungen Passport-Cracks noch lange nicht zum alten Eisen gehört. Am lustigsten war wieder einmal Aki Takase mit ihrer kleinen All-Star-Truppe bei ihrer Vivisektion des Blues aus dem Geist des Free Jazz. Das ist genauso einzigartig wie das halb klassisch, halb modern besetzte Andromeda Mega Express Orchestra, das die unfassbar vertrackten und verschachtelten Hochgeschwindigkeitskompositionen seines Chefs Daniel Glatzel auf beglückende Weise bewältigt.
Das besondere Flair Burghausens beflügelte außerdem in bewährter Weise die Jam Sessions im Jazz Keller, die Jazz-Night in den Altstadt-Lokalen und den abschließenden Next-Generation-Day mit vier jungen Bands. Und auch Cassandra Wilson steuerte auf der Bühne mit ihrer immer noch umwerfenden, von einem widerborstigen Blues tiefengrundierten, jede Phrase anders modulierenden Altstimme etliche Glücksmomente bei. So wird die „Wilson-Affäre“ als amüsante Fußnote in die Festivalgeschichte eingehen. Ihr Konzert aber wird, wie die anderen, bleiben.