Beim Südtirol Jazzfestival geht es schon lange um mehr als nur um Jazz. Der Bozener Arzt Klaus Widmann, der 2004 die Leitung übernahm, hat nicht nur das Programm Zug um Zug auf die besten derjenigen, meist jungen Musiker ausgerichtet, die die Genregrenzen weit über das traditionell unter dem Jazz-Begriff Verortete ausdehnen, er sieht auch einen größeren, kulturell-gesellschaftlichen Auftrag.
So hat dieses Festival wie kein anderes seine Region zur Bühne gemacht und mit der Musik ins Schaufenster gestellt: Bespielt wurden und werden nicht nur Konzertsäle, Theater oder Kinos, sondern viele der markantesten und schönsten Stellen Südtirols, von der zum futuristischen Innovationspark verwandelten ehemaligen Aluminiumfabrik bis zum das Ufer des Völser Weihers, von den römischen Ruinen im Bozener parco semirurali bis zu den Markt- und Stadtplätzen vieler Gemeinden, vom Berggasthof bis zu den Skihütten hoch oben in den Dolomiten. Seit dem vergangenen Jahr haben Widmann und sein Team um Organisator Max von Pretz der Stadt Bozen sogar zur Wiedereroberung öffentlichen Raumes verholfen. Wegen der Corona-Beschränkungen machten sie den Park des Kapuzinerklosters zur von schönen alten Zirkuswägen umrahmten Spielstätte „Kapucircus“. Obwohl einen Steinwurf vom Waltherplatz entfernt direkt in der Stadtmitte gelegen, war der Park in Vergessenheit geraten, verwahrlost und zum Drogenumschlagplatz verkommen. Heuer nun wurde aus der heimlichen ersten Zentrale tatsächlich das „Base Camp“ des Festivals.
Neben dem kontinuierlichen Aufbau eines der interessantesten und wichtigsten europäischen Jazzfestivals, das wie kaum ein anderes zur Plattform für musikalischen Austausch und zur Werkstatt für neue Projekte geworden ist, darf man auch das zum Vermächtnis Widmanns rechnen. Denn diese 40. Ausgabe des Festivals war zugleich die letzte unter seiner Leitung. Der bald 70-Jährige gibt auch seine Praxis auf und möchte im „vermutlich letzten Lebensjahrzehnt, in dem man sportlich noch aktiv sein kann“, wie er sagt, nun einmal weniger für andere als mehr für sich da sein. Die Entscheidung sei erst vor kurzem gefallen, betont er, vielleicht hat ihr aber seine Programmplanung unterbewusst zugearbeitet. Mit dem Programm 2022 kommt nämlich zugleich eine Festival-Ära zum Abschluss: Vor gut zehn Jahren hatte Widmann Länder- beziehungsweise Regionsschwerpunkte eingeführt. Unter dem Titel „Europa“ wurde nun gewissermaßen die Quersumme gezogen: die wichtigsten Entdeckungen des Festivals, die Lieblinge Widmanns, ehemalige „artists in redience“, sie alle wurden nun noch einmal versammelt. Ein Matthias Schriefl, ein Andreas Schaerer, ein Lukas Niggli, ein Kalle Kalima zum Beispiel – sie alle waren bei der legendären, auch als Film festgehaltenen „Saslonch Suite“ 2014 in der Wand und am Fuß des Langkofels maßgeblich beteiligt. Und die letzten drei gründeten hier mit dem schon in der Festival-Frühzeit präsenten Luciano Biondini das inzwischen gefeierte Quartett A Novel Of Anomaly, das nun erstmals auch hier spielte.
Oder auch der aktuelle Deutsche Jazzpreisträger Oliver Steidle, Jazzrausch-Bigband-Gründer Roman Sladek (mit seiner neuesten Band Slatac), der britische Senkrechtstarter Soweto Kinch, der österreichische Schlagzeug-Universal-Entertainer Lukas König, das niederländische Gitarrengenie Rainier Baas wie sein italienisches Pendent Francesco Diodati und sein französisches Julien Desprez; neu zu entdecken der finnische Saxofonist Pauli Lyytinen und der slowenische Schlagzeuger und Vokalist Kristijan Krajncan. Natürlich auch aufregende Jazzerinnen wie die in London lebende Südtirolerin Ruth Goller, die Schwedin Anni Elif, die Deutsche Steffi Narr oder die Österreicherin Judith Schwarz - das französische Stimmwunder Leila Martial musste leider wegen einer Stimmbandreizung absagen.
Einige von ihnen durften diese Ausgabe sozusagen mitkuratieren und Nachwuchsjazzer vorschlagen. So kamen unter anderem die britische Schlagzeugerin Jas Kayser, die litauische Gitarristin Ella Zirina oder das Quintett der ungarischen Sängerin Emma Nagy zu ihren Bozen-Debüts. Die meisten blieben – auch bei diesem schon aus Gründen der Nachhaltigkeit sehr aktuellen Trend war das Südtirol Jazzfestival ein Vorreiter – mehrere Tage oder das ganze Festival und spielten in den unterschiedlichsten Formationen und Kombinationen. Viele stiegen auch beim Auftritt des Euregio Collective mit ein, einer weiteren Errungenschaft des Festivals. Das nämlich ist wohl das wichtigste Anliegen des Festivals: Der Brückenschlag zwischen Musikern, Veranstaltern und Publikum, musikalisch wie menschlich; von Südtirol aus nach ganz Europa, wo man inzwischen mit vielen Institutionen kooperiert.
Das Publikumsinteresse war bei den meisten Konzerten beachtlich. Dies war nicht immer so, aber die Konsequenz, mit der Widmann und das Festival den eingeschlagenen Weg gingen, hat Früchte getragen. Kein leichtes Erbe, das Widmann zusätzlich zum Auftrag hinterlässt, Neues zu wagen. Immerhin hat er sich anders als viele Jazz-Patriarchen bereits um seine Nachfolge gekümmert. Max von Pretz, Stefan Festino Cucco und Roberto Tubaro sind inzwischen ein eingespieltes Team und werden das Schiff weiter durch die stürmische See leiten.