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Eine Frau mit Erfahrung

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La bohemienne: Marianne Faithfull und ihr neues Album „Kissin Time“
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Davon träumt wahrscheinlich jeder Künstler – und im Lande Pop, wo nur die Jugend zu zählen scheint und die Zeit noch rascher vergeht als anderswo, vielleicht am meisten: dass es weitergeht, dass man Fixstern ist und nicht nur Sternschnuppe, dass auch die nächste Generation sich auf das eigene Werk bezieht. Marianne Faithfull ist, zumindest auf ihrem neuen Album, nicht die alternde Diva, einsam und verloren, sondern die Königin der Männer, die scheinbar nichts falsch machen kann: von Beck bis Damon Albarn, von Jarvis Cocker bis Dave Stewart.

Davon träumt wahrscheinlich jeder Künstler – und im Lande Pop, wo nur die Jugend zu zählen scheint und die Zeit noch rascher vergeht als anderswo, vielleicht am meisten: dass es weitergeht, dass man Fixstern ist und nicht nur Sternschnuppe, dass auch die nächste Generation sich auf das eigene Werk bezieht. Marianne Faithfull ist, zumindest auf ihrem neuen Album, nicht die alternde Diva, einsam und verloren, sondern die Königin der Männer, die scheinbar nichts falsch machen kann: von Beck bis Damon Albarn, von Jarvis Cocker bis Dave Stewart. Fast scheint es, als sei Marianne Faithfull zu ihren Anfängen zurückgekehrt. Damals, 1964, die Swinging Sixties begannen gerade, sie war 17, sehr blond, sehr schön, sang sie den ersten Song, den Mick Jagger und Keith Richard überhaupt zusammen geschrieben haben und machte ihn zum Hit: „As Tears Go By“ war eine helle Hymne, die ihre Durchschlagskraft freilich einem düsteren Grund verdankte und Marianne Faithfull war eine junge Frau, deren Unschuld reizte und provozierte.

Fast vier Jahrzehnte später hat Marianne Faithfull (fast) alles hinter sich: ihr einst glattes und leuchtendes Gesicht ist so wüst und zerstört wie ihre Stimme, ihr Leben nicht mehr voller Erwartungen, sondern ein Trümmerfeld. Sie hat, als Virtuosin einer grenzenlosen Selbsterfahrung, als „Freundin“ Jaggers, am Ende als Junkie die „Fröste der Freiheit“ erfahren, hat sich im Niemandsland der Emanzipationen und Utopien verirrt und ist nach einer schwarzen Dekade Ende der 70er-Jahre, gerade erst jenseits der 30, mit „Broken English“ zurückgekehrt als Exempel der erfahrenen Frau: „The Ballad of Lucy Jordan“, die Dr. Hook schon aufgenommen hatte, schien ihr wie auf den Leib geschrieben. Marianne Faithfull, die Glücksfee, wurde zur Troubadourin der Tristesse, zur Phänomenologin der Verluste und der Schmerzen, zur Exegetin des Entzugs. „Groß“ war sie aber nicht so sehr in der Entsagung, sondern in der Bitternis ihrer Revolte.

Mit „Strange Weather“ gelang ihr eines der besten Alben der 80er- Jahre: der Titelsong stammte von Tom Waits, aber aus ihrem Mund klang er authentischer. In den 90er-Jahren wurde Marianne Faithfull „artsy“, aber keineswegs steril: Kurt Weill ersetzte Waits, für das „Gebrochene“, das längst zum Markenzeichen der neuen Marianne Faithfull geworden war, fand sie jetzt auch die adäquate musikalische Sprache. Der „Twentieth Century Blues“ (1996) kam nicht mehr so sehr von den sengenden Baumwollfeldern, sondern eher von den urbanen Schlachtfeldern der Brecht-Tradition. Nicht vollkommen frei von einem bitter-sweeten Sentiment und einer Lust auf trivialmythische Archetypen fand sie neue Role-models: die Hure und die Krankenschwester. Sie tat so, als könnte sie beides zugleich sein: grenzenlos barmherzig und von Rachefantasien „scharf“ gemacht. Ihre Version von Brecht/Weills „Die sieben Todsünden“ wurde bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt – ist es Verzweiflung oder ist es das Glück, könnte man den fragen, der so reüssiert.

Anno 2002 also die Rückkehr zu den Anfängen, zum Pop und zu den Pop-Stars, die sie damals förderten und ausbeuteten, für die sie Muse und Mädchen für alles war. Nur lockt jetzt an Marianne Faithfull nicht mehr die süße Haut, sondern der Abgrund eines langen Lebens. Erotik hat, wenn sie die ihr eigene Betriebstemperatur erreicht, immer auch mit Auslöschung zu tun.

Beck Hansen, cooler und mehr Chamäleon als die anderen, verschafft ihr einen klirrenden Auftakt. Zu ihrem obszönen „sex with strangers“-Bekenntnis entwirft er einen technoiden Soundtrack, der die Hoffnung, dass hinter jedem Ende ein neuer Anfang wartet, hinter jedem Totalverlust der Illusion eine noch schrägere Bereitschaft, marionettenhaft erscheinen lässt. Als wäre der sehnsüchtige Körper eine Maschine, die die Seele in ihren Sog hineinreißt.

Einst war Marianne Faithfull die Jüngere, lockende Natur, Muse. Jetzt genießt sie es, die Ältere zu sein, die nicht nur zuschaut, wie sie ihre „Söhne“ inspiriert, sondern die deren Songs, so seltsam und eigen sie auch sein mögen, in den Sound, das Grundrauschen der eigenen Existenz zurückverwandelt. „Kissin Time“ ist beides: eine Art Best-of-Sampler mit größtenteils unveröffentlichten Meisterwerken der Architekten des 90er-Jahre-Pop; und ein unverwechselbares Marianne Faithfull-Album.

In Patrice Chéreaus obsessiver Existenz-Erkundung „Intimacy“, die im vergangen Jahr bei der Berlinale den Goldenen Bären bekam, spielt sie die Freundin der Protagonistin im Lucy-Jordan-Alter, die sich in den „sex with strangers“ wie eine Ertrinkende stürzt: absolut und ohne Konsequenz, den Augenblick aufladend, weil es keine Zukunft gibt. Und Marianne Faithfulls Gesicht ist der beredte Kommentar zu den eher lakonischen Abläufen. In „Kissin Time“ spricht sie aus, was sie dort darstellt: dass es in ihr noch so viel Leben, Sehnsucht, Lust gibt, aber keinen Ort der Erfüllung; dass sie etwas ist oder sein könnte, das kein anderer mehr will oder auch nur annimmt. Am Ende läuft alles auf die simpelste und tragischste Alternative hinaus: „Are you with me here or am I alone?“ Dazu künstlichste Club-Musik von Etienne Daho, das was die Amerikaner unterschiedslos „House“ nennen.

Und als könnte man nur man selbst sein, wenn man lang genug in den Spiegel geschaut hat, betreibt Marianne Faithfull Vergangenheitsbewältigung. Sie überlegt, wie das mit den Eltern war („My father promised me roses, my mother promised me thorns“), als wäre die ödipale Struktur das, was alles weitere bestimmt, immer und überall. Und sie entwirft im „Song For Nico“ das Bild eines Doubles. Das Sixties-Model und die Velvet Underground-Sängerin hat sich, anders als sie selbst, nicht erholt, ihr Multi-Amphetamin-Mix aus Euphorie und Verzweiflung endete tödlich, aber was Marianne Faithfull über Nico singt „Already in the shit though she’s innocent“, das könnte auch ihr Lebens-Resümee sein – wenn da nicht in der wachsenden Gefahr auch die Rettung sichtbar würde: Kunst und, mehr noch, Kunst-Kooperation; Erlösung in der gemeinsamen Beschreibung dessen, was passiert ist.

Marianne Faithfull: Kissin Time, Virgin

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