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Tradition ist relativ. Man kann sie pflegen wie Wynton Marsalis, der die Vergangenheit zur Gegenwart erklärt und sie archiviert, konserviert, kanonisiert. Man kann sich ihr aber auch wie Lester Bowie nähern, der die Überlieferung als ebenso subjektives wie kreativ nutzbares Netzwerk der Klangeindrücke versteht, das er eifrig und lustvoll dekonstruiert, neu kombiniert. „Jazz ist weder ein spezielles Repertoire, noch eine akademische Denkaufgabe, sondern eine Lebensform“, räsoniert der 57jährige Trompeter und Wahl-New-Yorker mit einem gewitzten Lächeln auf den Lippen und schleudert damit seinem künstlerischen Lieblingsgegner am Lincoln Center eine geballte Ladung mythisch-ironischen Authentizitätsgebarens entgegen.
Bowie weiß, daß er damit genauso in der interpretatorischen Sackgasse landen kann wie Wynton mit seinem Postulat der Historizität. Aber er hat dem Antipoden eine wesentliche Eigenschaft voraus, die ihn vor allzu herben musikalischen Fehldeutungen schützt. Bowie hat Humor. Und den hat er sich über Jahrzehnte hinweg aufgebaut und erhalten. Geboren in Frederick, Maryland, aufgewachsen in St.Louis, begann der Knabe Lester schon mit fünf Jahren, auf Anregung seines Vater Trompete zu spielen.
Er tingelte mit Rhythm & Blues-Combos durch die Region, wurde in Schul- und Armybands gesehen und sammelte an der Seite von Oliver Lake oder auch Jimmy Forrest erste Erfahrungen als Profi. Mitte der sechziger Jahre arbeitete er als Studiomusiker in Chicago, schloß sich 1965 der Association For The Advancement Of Creative Musicians (AACM) an und rief mit dem Art Ensemble Of Chicago die erfolgreichste Formation dieser Musiker-Vereinigung ins Leben. Damals setzten sich Bowie und seine Kollegen hippie-bewegt und Black Power-beeinflußt für die Öffnung von Spielstätten für freie Musizierformen ein und versuchten das Idiom des Free Jazz als ernst zu nehmende Ausdrucksform in der Konzertlandschaft zu etablieren. Er arbeitete mit Archie Shepp, Cecil Taylor, David Murray und stellte zahlreiche eigenwillige Formationen wie etwa 1979 das 59köpfige Sho‘ Nuff Orchestra zusammen. Aus seinen Erfahrungen mit unterschiedlichen Kombinationen von Blasinstrumenten entstand schließlich 1984 die Brass Fantasy, die neben dem immer noch aktiven Art Ensemble zur wichtigsten Band für Bowies Klangphantasien wurde.
Beseelt von ironisch gebrochener Ehrfurcht gegenüber den musikalischen Monumenten der Popkultur stürzte er sich mit seinem Blasorchester mal auf Whithney Houston, mal auf Michael Jackson und stellte den gelackten Arrangements der Kommerz-Ästheten ungehörige, pfiffige Varianten des Jazz-Anarchisten entgegen. „The Odyssey Of Funk & Popular Music“ setzt diesen Trend der subversiven Stellungnahme nach mehrjähriger Schaffenspause fort. Da gruppieren sich Melodien von Cole Porter und Giacomo Puccini, Harold Melvin und Andrew Lloyd Webber, von dem Schockrocker Marylin Manson und den Spice Girls einträchtig nebeneinander. Bowies jauchzende und plaudernde, kieksende und zaudernde Trompete, die ähnlich ausgefallenen Soli des Posaunisten Joshua Roseman oder des Waldhornisten Vincent Chancey.
Die „Odyssey“ ist ein Album für hintersinnige Kultursynoptiker. „Coming Home Jamaica“ hingegen setzt auf Reibung und Kontrast. Bereits 1995 auf der karibischen Insel entstanden, laden Bowie, Roscoe Mitchell, Malachi Favors und Famoudou Don Moye zum Streifzug durch die musikalischen Querverweise afrikanischer Traditionsbildungen. Sie kombinieren Bossa und Calypso, Bebop und Balladen, Reggae und freie Dialoge zu einer zuweilen ein wenig ausladenden Melange der Klangeinflüsse. Denn zwischen Persiflage und Ernst prallen im Art Ensemble nach mehr als drei Jahrzehnten gemeinsamer musikalischer Vergangenheit immer noch die Charaktere aufeinander und inszenieren sich als trocken exzentrische Archäologen schwarzer Kulturerbstücke. Auch hier herrscht der Humor, nur ist er sorgfältig kaschiert und versteckt sich in den Details eines Quasi-Reggaes (Strawberry Mango) oder einer soundentkernten und karg arrangierten Bossa Nova (Odwalla Theme). Amüsant, wenn auch schrulliger als die Brass Fantasy.
Noch ein Nachtrag: Zeitgleich mit Lester Bowies Alben hat sich der Saxophonist des Art Ensembles Roscoe Mitchell mit einem eigenen Projekt an die Öffentlichkeit gewagt. Lustvoll metastruktuell verknüpft er mit seiner neunköpfigen Note Factory Stilrelikte der Free-Ära mit Klanganleihen bei der zeitgenössischen klassischen Moderne. Mit hervorragenden Kollegen wie dem Posaunisten George Lewis und dem Pianisten Matthew Shipp komprimiert „Nine To Get Ready“ Erfahrungen mit kollektiv wachsenden Klangräumen und frei fließenden Motivnäherungen, kontrapunktischen Linienschichtungen und polyrhythmischen Wechselspielen zwischen Festlegung und Freiheit zum Manifest der musikalischen Öffnung.
Anspieltips
Art Ensemble Of Chicago: Coming Home Jamaica (Atlantic/EastWest 3984-24792-2)
Lester Bowie Brass Fantasy: The Odyssey Of Funk & Popular Music (Atlantic/EastWest 3984-23026-2)
Roscoe Mitchell And The Note Factory: Nine To Get Ready (ECM 1651/Motor 539 725-2)