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Marthalers Jahrhundert-Blues

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Zu einem neuen Projekt am Theater Basel
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„20th Century Blues“: Wir könnten uns von Graham Valentine, der als Noel-Coward-Verkörperung, wie sich’s gehört, zu Anfang gleich den Titelschlager intoniert, auf eine falsche Fährte locken lassen. Denn der Song, den Coward 1929 komponierte, gibt wohl eine Art Leitmotiv für den ganzen Abend, doch dem Duo Marthaler/Henneberger geht es nicht einfach darum, modischen Trends zu folgen, sie hören Cowards „Blues“ viel eher als eine Art Prophetie, die sich beängstigend in unserer aktuellen Gegenwart erfüllt. „Why is it that civilised humanity can make this world so wrong?“ Cowards Frage wird nicht ihre Antwort, sondern vielmehr den erneuten Nachweis ihrer Berechtigung am Schluss des Abends finden, wenn sich die Bühne, während die Akteure des Stücks kaputt am Boden liegen, lautlos mit gespenstischen Paaren von Klonen füllt.

Keine Fortsetzung, doch eine Weiterführung. Wieder setzt sich Christoph Marthaler in seinem neuen Projekt, das er diesen Frühling, wiederum gemeinsam mit dem Dirigenten Jürg Henneberger am Theater Basel realisierte, mit der Musik auseinander. Anders aber als in „The Unanswered Question“, jenem „Opernprojekt“, mit dem das Basler Theater 1998 am Berliner Theatertreffen brillierte, gibt’s zwischen Bühne und Orchestergraben kaum mehr eine Interaktion. „20th Century Blues“: Wir könnten uns von Graham Valentine, der als Noel-Coward-Verkörperung, wie sich’s gehört, zu Anfang gleich den Titelschlager intoniert, auf eine falsche Fährte locken lassen. Denn der Song, den Coward 1929 komponierte, gibt wohl eine Art Leitmotiv für den ganzen Abend, doch dem Duo Marthaler/Henneberger geht es nicht einfach darum, modischen Trends zu folgen, sie hören Cowards „Blues“ viel eher als eine Art Prophetie, die sich beängstigend in unserer aktuellen Gegenwart erfüllt. „Why is it that civilised humanity can make this world so wrong?“ Cowards Frage wird nicht ihre Antwort, sondern vielmehr den erneuten Nachweis ihrer Berechtigung am Schluss des Abends finden, wenn sich die Bühne, während die Akteure des Stücks kaputt am Boden liegen, lautlos mit gespenstischen Paaren von Klonen füllt. Die Einzige, die bis dorthin überlebt, ist eine Sängerin. Schon im zweiten Teil hatte Rosemary Hardy, indes alle andern verstummten, ihre Stimme behalten dürfen. Kein „Blues“, den sie uns nun zum Ende singt, sondern einen beklemmend brüchig gewordenen „Abschied“ aus Gustav Mahlers „Lied von der Erde“. Spätestens da wird offenbar, womit uns Marthaler/Henneberger auch konfrontieren wollen: mit all jenen unerfüllten Erwartungen, die Menschen seit der vorigen Jahrhundertwende immer weiter mit sich trugen. Und die sie ein volles Jahrhundert lang auch auf immer neue Irrwege verfallen ließen.

Ein Lehrstück also – doch keine Schulmeisterei. Marthaler bietet eine krasse Show von der Art, die wir von ihm kennen. Seine bewährten Leute, neben Valentine Altea Garrido, Thomas Stache und Markus Wolff, bieten ein virtuoses, hoch artifizielles und akrobatisches Tanztheater. In ihm spiegeln sich nicht nur die Aggressionen und die dubiose „Körperlichkeit“ des vergangenen Jahrhunderts, sondern auch die Unfähigkeit zu lieben, zu kommunizieren, die wir an seinem Ende weithin konstatieren.

Das alles wäre aussichtslos, gäbe es nicht die Musik. Zwar funktioniert auch diese, in einer episch breiten Collage aus Stücken von Berg, Mahler, Messiaen, Schostakowitsch und Strawinsky, keineswegs als Trösterin. Was da, scheinbar ohne konkreten Bezug zum absurden Theater auf der Bühne, vom Basler Sinfonieorchester aus dem Graben herauftönt, erweckt indessen, als eine Art Antithese, jene unendlichen Horizonte, nach denen die Kreaturen oben vergeblich suchen.

Und gegen deren Einbruch in ihre ausweglose Welt sie sich auch mal handgreiflich wehren. Als der andere Sänger in diesem Stück, Christoph Homberger, aus der Unterwelt auftaucht, um – ebenfalls aus Mahlers „Lied von der Erde“ – das „Trinklied“ anzustimmen, versucht ihm einer sogleich den Mund zu verkleben. Das gelingt zwar nicht, doch Homberger wird, anders als seine singende Kollegin, zum Ende resignieren und, ein später Nachfahre von Wagners Kundry, sich in Vergessensschlaf zu retten suchen.

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