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Seit einem halben Jahrhundert befreundet: Startrompeter Franco Ambrosetti und Dusko Goykovich begegneten sich auf der Burghausener Bühne. Foto: Michael Scheiner
Seit einem halben Jahrhundert befreundet: Startrompeter Franco Ambrosetti und Dusko Goykovich begegneten sich auf der Burghausener Bühne. Foto: Michael Scheiner
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Mythische Klangwucht und opernhaftes Jodeln

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Französische Bands prägten die 47. Internationale Jazzwoche in Burghausen
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Könnte man sich statt der Augen die Ohren reiben, die 47. Internationale Jazzwoche Burghausen hätte wohl zeitweise ein lustiges Bild abgegeben. Nie zuvor seien so viele französische Bands und Musiker bei der Jazzwoche aufgetreten, wunderte sich selbst Joe Viera. Scheinheilig könnte man mutmaßen, dass der Gedanke von der deutsch-französischen Freundschaft nach Jahrzehnten – auch – bei den Festivalmachern angekommen sei.

Vermutlich ist es anders: Burghausen stand bei Jazzanhängern seit jeher für den amerikanischen Jazz. Europäische Einsprengsel, die jedes Jahr zu finden waren, ergänzten das Programm mit interessanten Farbtupfern, deckten regionale Entwicklungen ab und banden auf diese Weise auch Zuhörer, die sich jenseits us-amerikanischer Dominanz umhörten. Zufall oder Sparzwang, weil große amerikanische Musiker meist teuer sind? Schon seit einigen Jahren ist eine verstärkte Hinwendung zu Europa zu verzeichnen, auch, wenn viele große Acts nach wie vor häufig aus dem Stammland des Jazz kommen. Heuer aber eben nicht!

Den franko-amerikanisch-deutschen Anfang machten „zwei Weltstars“ und ein hochklassiges Jazzorchester. Viera, der 1970 die Jazzwoche mitgegründet hat, ließ in seiner Ankündigung für Bass-Ikone Ron Carter, den Akkordeon-Großmeister Galliano und die WDR Big Band Köln ein wenig Neid und Spott auf den Bayerischen Rundfunk anklingen. Der habe es nie geschafft, eine Rundfunk-Big-Band auf die Beine zu stellen. Auf den Rundfunk, respektive das (Bayerische) Fernsehen waren heuer so gut wie alle schlecht zu sprechen. Nach dessen Ankündigung im Vorfeld, das Festival nicht mehr aufzuzeichnen, war es nur mit Mühe und Mobilisierung zahlreicher Politiker und Abgeordneter gelungen, das Fernsehen zu bewegen, die Jazzwoche für die Ausstrahlung im Bildungskanal ARD-alpha mitzuschneiden. „Eine Minute Sport“, zitierte IG-Jazz-Vorsitzender Herbert Rißel die Süddeutsche Zeitung, „kostet 40.000 Euro, eine Minute Jazz weniger als ein Zehntel dieser Summe.“ Deshalb sei der genaue Betrag gar nicht mehr genannt worden. Nachhaltig pochte Rißel auf den, „in den Statuten verankerten Bildungsauftrag“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und bat Publikum und Politik eindringlich um weitere Unterstützung.

Viel Bass, wenig Musik

Nach diesem medienpolitischen Gefecht folgten drei Konzerte in einem: Zunächst das Duo Carter-Galliano. Danach spielten die Solisten jeweils ein Set mit der großartigen WDR Big Band Köln unter Leitung von Richard DeRosa. Zum Auftakt haute Galliano dem bass erstaunten Publikum die ganze orchestrale Wucht seines New-Musette-Stils mit einem grandiosen Solo von Bach’scher Strenge um die Ohren. Im Duo mit dem ungemein eleganten Spiel Carters schaltete der Akkordeon-Gigant eine Stufe zurück, ohne dass deshalb sein virtuoses Spiel an Intensität eingebüßt hätte. Ihre tänzerisch leichten, musetteartigen Duette und Improvisationen bestachen durch eine mitreißende Frische und Anmut. Bei aller Feinsinnigkeit und dem Gefühlsreichtum ihres Balladenspiels sind die beiden aber keineswegs nur Schöngeister, selbst wenn man gerade bei Carter manchmal in Versuchung kommt, ihn in dieser Schublade zu belassen.

Den ersten Teil mit der emphatisch aufspielenden WDR Big Band Köln bestritt Galliano mit eigenen Arrangements. Mit ungemeiner Präzision flogen einem die Noten um den Kopf, schwelgte das Orchester im Tangorausch eines Piazolla-Stücks und setzte in der Ballade „Poem“ sanfteste Akzente. Kaum zu glauben, wie sich davor das einst als Ersatz für orchestrale Begleitung entwickelte Akkordeon im nuancenreichen Spiel Gallianos durchsetzte und abhob. Gegen diese aufwühlende Stimmung wirkte der letzte Teil des Konzerts mit Carter am Bass eher locker entspannt. Mehrere Stücke aus dem Album „My Personal Songbook“ zeugten von der produktiven Zusammenarbeit, die das Jazzorchester mit dem Bassisten seit längerem unterhält. Einen Hauch brasilianischer Unbeschwertheit brachte das lässige „Ah, Rio“ ins winterlich-kalte Alpenvorland und das ein wenig triviale „Receipt, please“ bot Mainstream vom Feinsten. In diese gelockerte Stimmung grätschte überraschend das ungewöhnliche „Doom Mood“ hinein. Von einem kurzen aufregenden Bass-Solo eingeleitet, fiel es mit seiner abgründigen, dunklen Stimmung aus dem Rahmen und offenbarte eine wenig bekannte Seite des Bassisten, der zu den meistproduzierten Musikern der Jazzgeschichte zählt.

Frankreich 2: Wenig Überraschendes bot am nächsten Abend das Sangoma Everett Trio mit Enrico Rava (flh) und dem auf Réunion aufgewachsenen Mundharmonikaspieler Olivier Ker Ourio als Stargästen. Gediegener Mainstream, voller Melancholie und reich an schönen Bildern, der von einem vortrefflichen Bass (Christophe Lin-contang) und federndem Schlagzeugspiel des Leaders angetrieben wurde. Was Kommunikation, Wärme und vor allem Atmosphäre betrifft, übertraf der pfiffige Entertainer Everett mit seiner Band den nachfolgenden Auftritt von Superbassist Stanley Clarke mit seinem Quartett um Längen. Dessen noch immer beinahe unfassbare Schnelligkeit und Kunstfertigkeit auf dem Instrument überträgt er als Konzept auf die ganze Band mit jungen, technisch brillanten Musikern. Obwohl die Band am Ende Standing Ovations bekam, blieb deren schwindelig machender Auftritt in einem Rausch von Können, Tempo und klanglicher Wucht stecken.

Einen rein französischen Abend boten das mitreißende Straßen-Kollektiv „Les Lapins Superstars“ und anschließend die Pariser Electro Deluxe Big Band mit ihrem amerikanischen Sänger James Copley dem erstaunten Pub-likum. Die „Kaninchen-Superstars“ ernteten Hochrufe für eine gewitzte Show aus Rap, Reggae, Walzerklängen, groovenden Brass-Melodien, humoristischer Spontaneität und spritzigen New-Orleans-Anklängen. Das Ensemble erfüllt nicht nur jede Frauenquote, sondern präsentierte sich im ganzen Auftritt als gleichberechtigt mit wechselnder Leitung, treibenden Grooves und einer ungemein erfrischenden Inszenierung. Damit ist es den Festivalmachern gelungen, vermehrt jüngere Leute anzusprechen und zu begeistern. Das gilt auch für die Electro Deluxe Big Band mit zwei „Amerikanern in Paris“ – dem Sänger James Copley mit soulig-voller Baritonstimme und dem Rapsänger Beat Assailant. Sie brachten mit einer konventionellen Show aus Entertainment, neu arrangierten Popsongs – „Stayin’ Alive“ der Bee Gees – und knackigem Souljazz den Saal zum Kochen und Tanzen. Die Standing Ovations waren musikalisch zwar nicht so recht nachvollziehbar, für die Show des ununterbrochen animierenden Copley mit seinem prächtigen, volltönenden Bariton dagegen durchaus.

Der Jazz, der aus dem Nebel kommt

Frankreich 4: Guillaume Perret & The Electric Epic waren musikalisch sicher das extremste Ensemble der diesjährigen Jazzwoche. Saxophonist Perret aus dem ostfranzösischen Annecy inszenierte mit dichten Nebelschwaden, blitzenden Lichtbatterien, von unten strahlenden Scheinwerfern und mächtigem Sound ein Höllen-spektakel. Die „elektrisch Epischen“ entfachten ein tobendes Klanggewitter aus rockigem Metal, düsterem Ambient und heiserem Nujazz. Die brachiale Wucht, die das Quartett entfachte, ergriff die Zuhörer, die nicht die Flucht ergriffen hatten, wie ein unwiderstehlicher Sog. Inspiriert vom Industrial der 70er- und 80er-Jahre und den kryptisch-eruptiven Klanggemälden Christian Vanders und seiner Kult-Band Magma entwickelte Perret einen bombastischen, mythisch aufgeladenen Sound. Vielfach durch Filter und Effekte abgewandelt, setzt er seine melodischen Linien und impressionistischen Farbtupfer da hinein. Zwischen endlos repetierten wuchtigen Riffs der beiden Gitarristen Laurent David (el. bass) und Nenad Gajin gewannen diese eindringlichen Improvisationen, vom flackernden Feuerlicht aus dem Schalltrichter des Saxophons illuminiert, die Anmutung einer quasi-religiösen Anrufung.

Davon war das – auch europäische, aber aus der Schweiz kommende – Sextett „Hildegard lernt Fliegen“ um den Sänger-Vokalisten Andreas Schaerer weit entfernt. Bei seinen Kompositionen geht Schaerer undogmatisch vor. Vom schwül-ironischen Blues über vertrackte harmonische und rhythmische Verschachtelungen bis hin zur opernhaften Attitüde nutzt er herkömmliche und ungewohnte Formen und Stilmittel. Die Instrumentalisten kommen in langen Improvisationen oder schrägen Reibungen zu Wort. Dabei verliert sich die Band nie in ermüdenden Rei-hungen von einem Solo zum anderen. Im Zentrum aber steht, besser grummelt, heult, knirscht, zickt und jodelt singend die Stimme des Bandleaders. Mit ungewöhnlich großem Stimmumfang und einer mannigfaltigen Ausdrucksfähigkeit lässt sich Schaerer irgendwo zwischen Theo Bleckmann und dem freien Avantgarde-Vokalisten Phil Minton einordnen. Vor zwei Jahren erhielt die Band dafür den BMW Welt Jazz Award.

Zeitgleich zum Alternativprogramm, das immer samstagabends im prunkvollen Stadtsaal „jüngere Leute und Kenner“ anspricht, stand in der Wackerhalle die von Trompeter Franco Ambrosetti zusammengestellte All-Star-Band auf der Bühne. Mit den amerikanischen Altmeistern und Jazzstars Buster Williams (b), Greg Osby (as), der zupackenden Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington, dem italienischen Pianisten Dado Moroni und Gianluca Ambrosetti (ts), der in dritter Generation das musikalische Erbe fortführt, bot die Band packenden Mainstreamjazz Coltrane’scher Prägung. Ein Gastauftritt des fast 85-jährigen Dusko Goykovich (tp), einst Mentor von Franco Ambrosetti, wurde vom Publikum mit großem Beifall bedacht.

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