In den frühen 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts erfindet Jean Paul Sartre den Existenzialismus: als stummer Flaneur und Beobachter in den Cafés der großen Pariser Boulevards; als aus dem Leben vertriebener Junglehrer in der kleinbürgerlichen Öde und Enge der Provinzstädte; und in nächtelangen Gesprächen mit Simone de Beauvoir. Aus einer ins Detail verliebten Phänomenologie des Alltags entsteht eine Philosophie, die Daseins-Exegese zum Lifestyle-blueprint macht.
In den frühen 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts erfindet Jean Paul Sartre den Existenzialismus: als stummer Flaneur und Beobachter in den Cafés der großen Pariser Boulevards; als aus dem Leben vertriebener Junglehrer in der kleinbürgerlichen Öde und Enge der Provinzstädte; und in nächtelangen Gesprächen mit Simone de Beauvoir. Aus einer ins Detail verliebten Phänomenologie des Alltags entsteht eine Philosophie, die Daseins-Exegese zum Lifestyle-blueprint macht.Zu den wichtigsten Entdeckungen Sartres gehörte die Einsicht, dass die Menschen nicht immer ehrlich sind, dass sie sich und anderen Rollen vorspielen, kurz: dass sie Schauspieler des Lebens sind. Dieses Schauspielerhafte der Existenz, das nirgends so drastisch ist wie bei den Künstlern und ihren Schatten, den Bohemiens, ist immer beides: Faszinosum und Skandal. Schon Nietzsche warf Wagner, dem er „höriger“ gewesen war als jedem anderen, in seiner späten Enttäuschung und Ernüchterung Schauspielerei vor.Zu Pop gehörte von Anfang an beides: das Behaupten einer unbedingten Authentizität jenseits normierter Lebensentwürfe – und ein halt- und schamloses „Posen“, also der Charme einer großen Lüge, eines bunten „bigger than life“. Keiner verkörpert diese Ambivalenz und Paradoxie so erfolgreich wie Tom Waits: Er ist, im Film und auf der Bühne, die Ikone einer kaputten Existenz, die den Bodensatz, die Ränder und die „Nacht“ der Gesellschaft wählt, weil sie Kompromisse und Heuchelei verachtet – und er hat dieses Outcast-Image äußerst konsequent als Erfolg versprechende Marke einer entfesselten Marktwirtschaft etabliert. Stimme, Gesicht und Haltung scheinen von den Himmeln und Höllen einer rückhaltlosen Säufer- und Drogen-Karriere zu künden – dabei ist er seit zwei Jahrzehnten trocken und lebt mit Frau und Kindern auf dem Lande. Seine Heimat sind nicht die Bars und Bordelle, sondern die Staatstheater, Hollywood-Blockbuster und Metropolen-Vernissagen, denen er düster-dämonische Soundtracks auf den sensationssüchtigen Kunst-Leib schreibt.
Alle Masken hat er sich schon aufgesetzt: Er „gab“ den Blues-Barden, dessen Stimme schwärzer ist als die der Schwarzen; den Urschrei-Rock’n’Roller, dessen enthemmte Performance zur kollektiven Therapie von Sänger und Aficionados wird; den verlorensten Zirkus- und Zigeuner-Artisten; und den abgründigen Avantgardie, der weiter geht als all die anderen. Schon Anfang der 90er-Jahre hatte Tom Waits mit dem Feuilleton-Favoriten Bob Wilson und dem Beat Poet-Urgestein Bill Burrougs zusammengearbeitet, in einem Bühnenprojekt („The Black Rider“), das die deutsche Romantik zu einem sinistren Kunst-Stück der Post-Moderne recycelte. Jetzt gibt es zwei weitere Bob-Wilson-Kooperationen im Doppelpack: die Theater-Musik zu Woyzeck („Blood Money“) und „Alice“, die viel beachtet und viel gescholten wurden; zu Unrecht. Denn natürlich ist Tom Waits nicht der, der er mit seiner Stimme und seinen Sounds vorgibt zu sein. Natürlich finden seine Reisen ans Ende der Nacht auf sicherem Boden statt: dem des gutbürgerlichen Wohn- und Schlafzimmers (Ehefrau Kathleen Brennan ist seit zwei Jahrzehnten nicht nur Muse, sondern wichtigste Mitarbeiterin und Ko-Autorin) und auf den Brettern großzügig subventionierter Bühnen. Aber wer diese durchaus beeindruckenden, in der Instrumentation wie in den Melodien und Harmonien virtuosen Alben eine „Parodie“ seiner selbst nennt, der müsste sagen, wann und wo er das bessere „Original“ vermutet. Vielleicht sind da manche lange auf ein Posing, aufs Schauspielerhafte des Pop allzu gern hereingefallen und sind jetzt nur beleidigt, weil nicht immer wirklich Authentizität drin ist, wo Authentizität draufsteht.
Dieses Problem hat Bryan Ferry nicht: Er hat sich schon immer zur Künstlichkeit bekannt – und war darin vollkommen authentisch. „Re-make, re-model“ hieß das erste Projekt seiner Band „Roxy Music“ Anfang der 70er- Jahre – und dabei ist es auch nach der Auflösung der Band, in Ferrys zahlreichen Solo-Alben und -Performances geblieben.
Ferry ist ein Kind der härtesten Arbeiterstadt – Newcastle im englischen Nordosten –, wo Party und Posing von Anfang an nicht Frivolität und Leichtsinn, sondern eine Überlebensnotwendigkeit waren. Schon in der Prä-Thatcher-Ära entdeckte er im Glamour eine subversive Strategie; und eine Möglichkeit, seinen Stolz unter unwürdigen Verhältnissen nicht nur zu behaupten, sondern für die anderen sichtbar zu inszenieren. Bryan Ferry war stets so sehr Virtuose des Scheins, dass er jetzt, als älterer Herr, der immer noch gern den Salon-Beach Boy in sich vorzeigt, zur derzeit glaubwürdigsten Kopie des Dandys und distinguierten Gentlemans geworden ist. Niemand würde Bryan Ferry das vorwerfen, was Tom Waits jetzt von einigen vorgeworfen wird: dass er, „in Wahrheit“, ein anderer sei. Auf seinem neuen Album „Frantic“ (bei Virgin) scheut er nicht vor dem Schwersten zurück, dem Nachsingen von Dylan-Klassikern wie „It’s All Over Now, Baby Blue“ und „Don’t Think Twice, It’s Allright“; vielleicht weil er endlich einmal auch das singen wollte, was nicht nur Machos auf der Seele brennt: „Ich gab ihr mein Herz, aber sie wollte meine Seele.“ Die Frau als Vampir, der am männlichen Selbst knabbert, bis nur noch die rollenkompatible Hülle bleibt, das ist das eine; das andere ist die Kooperation mit dem Möchtegern-Bryan-Ferry Dave Stewart, der sicher ein äußerst begabter Songwriter und Produzent ist, aber ein Geschmacks- und Image-Problem hat; und, man höre und staune, mit „Roxy“-Mate Brian Eno. „I Thought“ ist der stärkste Song des Albums, vielleicht würde sich eine „Roxy“-Reunion lohnen!