In der Pop-Musik gibt es keine Identitäten – jedenfalls keine, die fest und natürlich wären. Wer Pop macht, rechnet mit dem Schein: Sein Kapital sind die Wünsche und die Träume des Publikums, die er bedient; seine Methode ist die Täuschung. Im Lande Pop ist nichts Natur und alles Projekt. Der Held der Pop-Musik ist die Puppe, die ein Reflex des Begehrens des anderen ist. Sie imitiert Leben; aber sie lebt nicht.
In der Pop-Musik gibt es keine Identitäten – jedenfalls keine, die fest und natürlich wären. Wer Pop macht, rechnet mit dem Schein: Sein Kapital sind die Wünsche und die Träume des Publikums, die er bedient; seine Methode ist die Täuschung. Im Lande Pop ist nichts Natur und alles Projekt. Der Held der Pop-Musik ist die Puppe, die ein Reflex des Begehrens des anderen ist. Sie imitiert Leben; aber sie lebt nicht.In der Rock-Musik geht es ausschließlich um Identität – die von bösen Mächten gefährdet wird. Im Rock gibt es nur zwei Wege der Rettung: Authentizität und Revolte. Die Probleme, welche seine Agenten haben, lauten: Wie kann ich frei sein, wenn ich ein Produkt der Umstände bin? Und: Wie kann ich die Wahrheit sagen, wenn ich sie nicht kenne? Der Held der Rock-Musik ist das Subjekt und seine Geschichte.Ani di Franco ist eine Heroin des Rock: ihr Leben und ihre Karriere sind exemplarisch. Von Anfang an verletzte sie die Zugangsbedingungen der Musikindustrie. Sie war so eigen, auch so unbeugsam, dass sie ihre Musik nur selbst produzieren und vertreiben konnte – idealtypisch: aus dem Rucksack bei ihren Konzerten. Sie erzwang den Zugang zu den Medien dadurch, dass sie so lange Fans und Anhänger sammelte, bis die kritische Masse erreicht war. Die heißt hier: break even oder Gewinnzone. Die Musikindustrie vertreibt, was sich verkauft. Durch demonstrative Authentizität – ein tautologisches „Ich bin, die ich bin“, verbunden mit einem spät-lutherischen „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ – und gestenreiche Revolte wurde sie zur geschützten Marke. Ani di Franco leistet Widerstand und erwartet dafür Zustimmung. Paradoxerweise aber erntet sie gerade bei den kritischeren und cooleren unter den jungen Musik-Consumern eher Ekel: „Darüber rede ich nicht einmal“, ist eine typische Antwort, wenn ich mich nach Ani di Franco erkundige. Zu Risiken und Nebenwirkungen des Engagements befragen sie ihren Typberater. Ani di Franco erzählt so wahrhaftig aus ihrem Widerstandsleben, dass ihr am Ende anscheinend keiner mehr glaubt. Auch die Verweigerung darf nicht zu erwartbar und stromlinienförmig sein. Reagan, Bush, Aids und Krebs schon in der ersten Strophe des ersten Songs, das erzeugt eher Überdruss – oder macht zumindest misstrauisch. Und die Musik? Ist auf eine andere, unanstößigere Weise authentisch: weit weg von den Maschinen, sehr reduziert, oft nur Gitarre und Gesang, manchmal beinahe improvisiert, sehr oft auf eine rauhe Art folky, dann wieder enthemmt jazzy, durchaus angenehm, manchmal, in bestimmten Momenten.
Nach den oben entworfenen Kriterien wären Die Goldenen Zitronen, Fun- und Polit-Punker der beinahe ersten Stunde, trotz aller Wildheit nicht Rock, sondern Pop. Denn die Zitronen tun nie so als seien sie rousseauistische Frühlinge, die mit naiven Augen in eine noch nie gesehene Welt blicken. Sie wissen um die Formen und Regeln, auch die Institutionen und Grenzen, die „man“ immer schon vorfindet – und spielen virtuos und subversiv mit ihnen. Dabei besteht ihre Radikalität nicht zuletzt darin, dass sie die Dinge auf den Kopf stellen und mit Lust beobachten, was da alles aus den Taschen fällt. „Schafott zum Fahrstuhl“ (Buback/Efa) heißt der programmatische Titel dieser rüden Verkehrung. Die Goldenen Zitronen räumen auf mit den liebgewonnenen Vorstellungen, auch den „alternativen“, und sie tun dies musikalisch in einer so hysterisch-berauschenden Weise, dass einem auf die wollüstigste Weise schwindlig werden kann. Noch nie waren die Zitronen so gut und so wertvoll wie auf diesem neuesten Album. Wo selbst seriöse Medien die hochinfektiöse Verblödung und den rabiaten Gedächtnisschwund zur moralischen Pflicht machen, halten die Zitronen mit einer vertrackten Landeskunde dagegen, die zugleich pure Party ist. Denn nur Lust und mehr als eine Spur Bosheit machen in Seuchenzeiten immun. Ein „must“!
Und , der immer schon heiß geliebte und (von manchen) auch verabscheute Ex-Flowerpornoes-Chef, der seit Jahren als unbeirrbarer Einzelgänger mit Lust zu Gruppenbildungen durch die Republik tourt? Der verhuschte Blick könnte ihn für einen notdürftig maskulinisierten Ani di Franco-Klon halten. Aber das ist er nicht. Denn Liwas Authentizität ist verschrobener, weniger vorhersehbar und seine Revolte unheimlicher und abgründiger. Nicht so sehr die Parolen des Tages werden bedient, eher schon die allerintimsten und die weltensprengend-ewigen Themen auf eine berückend scheue Weise angesprochen. Liwa ist ein Sucher außerhalb der Institutionen und der TÜV-geprüften Existenz-Gewissheiten, einer, der sich in den Daseins-Sackgassen auskennt, aber nicht mit Verzweiflung oder Depression auf die Umstände seines Lebens reagiert, sondern mit einer Zuversicht, die gelegentlich fast schon obszön wirkt. „Evolution Blues“ (Normal/Indigo) heißt sein neues Album: ungeniert-mäandernde Lyrics, sehr entspannter Gitarren-Sound und ein Booklet, das daherkommt, als hätte Jorge Luis Borges im Pop-Auftrag eine Kurz-Version der Bibliothek von Babel verfasst.
Wer sich nicht sicher ist, ob er sich für Subjekt oder Sandmann, für Authentizität oder Maschinerie entscheiden soll, der sollte seine Haltung vielleicht an Miami Bass überprüfen, der neuesten rüd-groovenden, äußerst durchschlagskräftigen, genauso hirn- wie Disco-kompatiblen Spielart eines Bass- und Percussion-lastigen Sounds aus Elektro-Florida. Das groovt geradezu unverschämt. Wer Gosup oder Exzakt oder DJ Marquee (zugegeben: nur schwer und in ausgesuchten Läden zu bekommen) hört, wird unter Umständen vom „Subjekt“ zur Lust- und Tanz-Maschine und vielleicht gerade dadurch zum Autor und Regisseur des eigenen Lebens.