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Probendes Kollektiv: Urbane Heimstatt für „The Dorf“ ist Dortmunds Jazzclub domicile. Foto: Stefan Pieper
Probendes Kollektiv: Urbane Heimstatt für „The Dorf“ ist Dortmunds Jazzclub domicile. Foto: Stefan Pieper
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Nicht Jazzband, sondern Künstlergruppe

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Mit „Protest Possible“ wagt sich „The Dorf“ an ein Konzeptalbum mit politischem Gewicht
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Wohin wird alles einmal führen? Wer sind wir überhaupt und warum das alles? Das neue Album der Großformation „The Dorf“ heißt „Protest Possible“ und nimmt es kraftvoll mit solchen Fragen auf. Hinter den Kulissen denken Jan Klare und seine Bandmitglieder über Musik und ihre Intention nach. Die Idee hinter dem Konzeptalbum war es, Autoren zu bitten, Protestlieder zuschreiben, in Zeiten, in denen der Turbokapitalismus mit all seinen Verführungen so vieles aus den Fugen reißt. Natascha Gangl, Wolf Kampmann Lisa Danulat und Jörn Klare schrieben die Texte, die dann das Musikerkollektiv „The Dorf“ zu Liedern verarbeitete.

Wörter schwarz auf weiß in klarer Diktion geben dem aktuellen Album die Richtung vor. Längst überfällig waren diese Sprachspiele und Slogans über gesellschaftliche Zustände und individuelle Befindlichkeiten.

„Wir leben in einer Welt, die auf alles nur Preisschilder macht und so tut, als könnte man ohne Begriffe wie Schönheit, Erfüllung, Freude, Glück und Liebe leben. Die Schere zwischen arm und reich driftet zugleich immer weiter auseinander. Deswegen ist es überfällig, Protest in der Musik auszudrücken“, umreißt Jan Klare selbst das Anliegen, mit dem die Autorinnen Lisa Danulat, Natascha Gangl, Laurie Penny ebenso der Jazzjournalist Wolf Kampmann und der Publizist Jörn Klare für die Lyrics zum neuen Werk beauftragt wurden.

Die 26 Musikerinnen und Musiker, die hauptsächlich aus dem Ruhrgebiet und der Kölner Szene kommen, agieren wie ein mächtiger, zuverlässiger Motor hinter den Worten. Es gehörte wohl zum Programm, dass sich „The Dorf“ manchmal kaum noch wie ein via „selbstorganisierender Schwarm­intelligenz“ improvisierendes Kollektiv, dafür umso mehr wie eine auf Breitwandformat hochfrisierte Punkband anhört. Aber so ungestüm sich auch der Druck im Kessel entlädt, so lebt in der Raffinesse der Arrangements ein reicher Erfahrungsschatz, immer weiter gewachsen seit 15 Jahren mit jedem künstlerischen Abenteuer in diesem orchestralen Menschengefüge. Jan Klare bezifferte das Gesamtbudget fürs Konzipieren, Komponieren, Aufnehmen und Produzieren des neuen Albums auf deutlich mehr als 1.000 Arbeitsstunden.

Das Anliegen dahinter markiert für Bandleader Jan Klare ein Kontinuum: „Da ist vor allem der Wunsch, Geschichten anders zu erzählen, als es der Mainstream praktiziert.“ Aber es braucht Reflexion, damit die kreative DNA sich stetig erneuert. „Mich fasziniert die Idee vom Bauhaus“, benennt Jan Klare eine seiner Inspirationsquellen. Genug Energie für eine Neudefinition von Ästhetik lag vor einem Jahrhundert, Anfang der 1920er Jahre, in der Luft. „The Dorf“ will in ähnlichem Sinne eine Energiequelle im Heute für seine Bewohner und sein Publikum sein. Aber so etwas funktioniert nur, wenn man Diskursräume zulässt und wachsen lässt: „In vielen Zoom-Runden haben wir uns gegenseitig Platten vorgestellt. Jemand musste sie loben und wir haben angefangen, uns gegenseitig Rezensionen zu schreiben.“ So kommen Gesetzmäßigkeiten in den Blick, nach denen „The Dorf“ funktioniert. Oder eben auch nicht funktioniert. Der Text dazu ist unter dem Thema „Qualitätsrecherche“ unter www.janklare.de/news/ abrufbar.

Die Band, die heute etwa 25 Mitglieder zählt, wurde von Jan Klare im Jahr 2006 als „off domicil orchestra“ gegründet und war zunächst eine Art Hausband des Dortmunder Jazzclubs domicil. Was 2006 begann, wächst wie ein vitaler Baum immer weiter. Viele prominente Kollaborationen etwa mit FM Einheit oder Joachim Kühn, Auftritte beim Moers-Festival und ein WDR-Jazzpreis sowie mittlerweile neun aufgenommene Alben und zwei Filmproduktionen verleihen der Bandhistorie Gewicht. Es gibt diverse Jazzpreise und eine Ensembleförderung stellt verlässliche Arbeitsbedingungen sicher. Aber eine solche Erfolgsbilanz trifft noch nicht den Kern dieser spezifischen „emotional bewegenden, einzigartigen und unser Leben verändernden Dorf- und Umland-Erfahrung“, wie der Bandleader Jan Klare eben das nennt, was bis tief in die individuelle Sozialisation jedes einzelnen Bandmitgliedes hinein strahlt.

Zum kreativen Alltagsgeschäft gehören die monatlichen Konzert-Sessions im Dortmunder domicil. Vor einigen Jahren passierte es der Band, dass sie von einem städtischen Konzertveranstalter „ausgeladen“ wurde – angeblich fürchtete man, dass für dieses Konzert zu wenig Tickets verkauft würden. „The Dorf“ verlegte den Gig kurzerhand umsonst und draußen auf ein Open-Air-Gelände beim Kulturgut Haus Nottbeck in Ostwestfalen – und alle kamen! Weil es draußen kalt war, wurde dann eben Techno gespielt.

Ohne das Gespür für feinste „Gemütszustände zwischen den Beteiligten“, wären viele daraus hervorgehende Band-Kreationen kaum denkbar. Die kreativen Außenposten im weiten Umland des Dorfes wachsen kontinuierlich weiter. Kein Zufall also, dass sich das konsequenterweise so genannte „Umland“-Label innerhalb weniger Jahre als eine der frischesten Plattformen für aktuelle Musik positionieren konnte.

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