Seit Jahrhunderten gibt es viele Gründe für einen Deutschen, die Alpen zu überqueren. Seit 2004 einen weiteren: Das Jazzfestival Südtirol Alto Adige. Damals hatte der praktische Arzt, Bergsteiger und Gitarrenmusik- und Jazz-Liebhaber Klaus Widmann das Südtirol Jazzfestival von Gründer Nicola Ciardi übernommen und machte es über die Jahre zu dem, was es heute ist: Ein Magnet für Jazzmusiker aus Italien, Deutschland, Großbritannien, Belgien und den skandinavischen Ländern, kurz gesagt aus ganz Europa und darüber hinaus. Will man neue Trends und neue Namen kennenlernen, dann ist man hier richtig. Das Festival 2023 eröffneten konsequenterweise junge Namen aus Spanien, Deutschland, Österreich, Italien und Korea: etwa Juan Saiz mit einer recht konventionellen Quartettbesetzung, aber gehörig Groove. Oder die Berliner Mit-Anführerin des Subcultural Collective „Subwater Beats“, alias Kid Be Kid, als charismatische Alleinunterhalterin, die sich auf waghalsige NeoSoul-, Beatboxing- und Klavier-Improvisationen mit der französischen Sängerin Leila Martial einließ, die wiederum mit ihrem Trio Oliphantre nach Bozen angereist war.
Vielfalt pur und künstlerisches Wagnis
Ein Festival braucht einen Ort, um zu wirken. Musik braucht einen Raum, um zu klingen. Das Südtirol Jazzfestival hat hier weiterhin unkonventionelle und immer wieder überraschende Lösungen anzubieten: Etwa eine dreitägige Bergtour in den Dolomiten mit einem österreichischen Trio um den Trompeter Lorenz Raab, ein Konzert mitten im Nadelwald von Jenesien auf tausend Höhenmeter mit dem Trio La Litanie des Cimes (Titelfoto mit Clemant Janinet, Geige/Clement Petit, Cello/Elodie Pasquier, Klarinette) oder eine mitreißende Stummfilmmusik im Keller eines alten Bozener Waaghauses mit Francesco Diodati und Alexander Yannilos. Dieses Konzept musikalischer Spaziergänge ist nicht auf billigen Effekt ausgelegt, sondern bringt die Musik je nach akustischer Gegebenheit auf besondere Art und Weise zum Klingen und je nach Location auf ungewohnten Wegen zu den Menschen. Im Idealfall bewirkt dieser Verpflanzungseffekt, dass einen Musik plötzlich stärker berührt, einen direkter angeht als im gewohnten Konzertformat. Auf dem Südtirol Jazzfestival wandelt man auf Goethes Spuren: „Nur wo Du zu Fuß warst, bis Du auch wirklich gewesen.“
Trotz Corona und aktuellen Kostenexplosionen in der Eventbranche ist in Südtirol noch alles da, was ein Jazzfestival braucht: eine gute kulturpolitische Vernetzung, treue Sponsoren und natürlich eine kreative, planende Leitung in Nachfolge von Klaus Widmann, der nach fast zwei Jahrzehnten Platz machte für Stefan Festini Cucco, Roberto Tubaro und Max von Pretz. Die drei stehen in Experimentierfreudigkeit Widmann in keiner Weise nach und so erlebte man am Eröffnungswochenende Konzerte zwischen ernsthaftem Bemühen, sprühender Originalität und absoluter Exzellenz. Musik als künstlerisches Wagnis: Das gehört nach wie vor zum Markenkern des Südtiroler Festivals. Die Musik der weit über 100 Musikerinnen und Musiker ist Vielfalt pur und, wie in den vergangenen Jahren auch, keine aus zweiter Hand. In Bozen zählt Authentizität.
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