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Gute Aussicht von der 18. Etage: der Nordsternturm in Gelsenkirchen, bespielt vom slowenischen Ein-Mann-Orchester Kristijan Krajnc mit Cello und Schlagzeug. Foto: Oliver Hochkeppel
Gute Aussicht von der 18. Etage: der Nordsternturm in Gelsenkirchen, bespielt vom slowenischen Ein-Mann-Orchester Kristijan Krajnc mit Cello und Schlagzeug. Foto: Oliver Hochkeppel
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Wider das Klischee vom rußschwarzen Revier

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Das neue „New Colours“-Festival in Deutschlands „ärmster Stadt“ Gelsenkirchen
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Klischees über das Ruhrgebiet gibt es reichlich. Am gängigsten ist das vom grauen bis rußschwarzen Revier mitsamt von der Maloche verhärmten Menschen. Das hat schon nie ganz gestimmt, als hier noch Kohle und Stahl regierten. Viel Grün und Wasser durchzieht und umgibt die miteinander verwachsenen Städte. Und mit dem gigantischen Strukturwandel der drittgrößten Metropolregion Europas durften Natur und Kultur eine Menge der Industrieflächen zurückerobern.

Sicher, Gelsenkirchen, schon rein geografisch das Herz des Ruhrgebiets, gehört statistisch zu den ärmsten Städten Deutschlands und hat seine gerne gefilmten Schmuddelecken. Aber es hat auch seine anderen, „wunderschönen“ Orte. Einige davon haben Bernd Zimmermann und Susanne Pohlen mit ihrer PublicJazz events Agentur zusammen mit dem von Susanne Macheit geleiteten Verein zur Förderung von Kunst und Jazz jetzt für das erste „New Colours“-Festival in Spielorte verwandelt.

Wieder, muss man sagen, denn mit einzelnen Konzerten machen die überzeugten Jazzfans das schon seit bald zehn Jahren. Aus der Überzeugung heraus, dass Jazz keine öffentlich subventionierte Elitenkultur für Insider sein darf, sondern die aktuell innovativste und umfassendste Musikform ist – und obendrein ein relevantes Kulturgut und „weicher Standortfaktor“–, die es nur aus fehlender oder verzerrter Wahrnehmung zu befreien gilt, gründeten sie 2013 die Reihe FineArtJazz. Erschlossen Spielstätten wie den Industrieclub, die Burg Lüttinghof, den Nordsternturm, die Kunststation Rheinelbe, den Solawi Lindenhof oder Schloss Horst (das jetzt zur Festivalzentrale wurde). Überzeugten Zug um Zug Sponsoren und Publikum. Und feierten nach über 150 Konzerten 2019 mit 80 Prozent Auslastung den Durchbruch – bis Corona kam.

Immerhin führte die Zwangspause zum Festival-Gedanken und seiner sorgfältigen Umsetzung. Gegen alle Widerstände – die klamme Stadt konnte nur Sachmittel und die Spielstätten zur Verfügung stellen, mit den amtierenden Kultur-Entscheidern im Land steht man auf Kriegsfuß – wurde die Sache mithilfe diverser Sponsoren und der Neustart Kultur-Förderung des Bunds durchgezogen. Und weil Zimmermann und Pohlen – die seit Jahren auch das Online-Portal nrwjazz.net betreiben – seit jeher nie im eigenen Sud schmoren, sondern sich europaweit in der Szene umschauen, hatte das Festival internationalen Anstrich und Anspruch. Nicht nur, was die Künstler betrifft: Das Grußwort lieferte der Leiter des Südtirol Jazzfestivals Klaus Widmann, als Festivalbotschafter fungierte der für seine Nordsee-Krimis bekannte Schriftsteller Klaus-Peter Wolf, die Pressearbeit besorgte eine Münchner Agentur, von der sich Journalisten auch aus England, den USA oder Italien locken ließen.

Der Begriff Jazz tauchte im Festival-Titel nicht auf – der Einsicht folgend, dass die von den meisten darunter verstandene Musik nicht mehr die ist, die auf fortschrittlichen Festivals zu hören ist. Sondern eine genreübergreifende Musiksprache, deren Unterscheidung auf offene Spielhaltung, Hierarchiefreiheit und den Grad der Kreativität, der technischen Exzellent und der Aufmerksamkeitsforderung hinauslaufen. Was man bei dem sorgsam kuratierten Programm von „New Colours“ wie unter dem Brennglas beobachten konnte. Denn wie will man kategorisieren, was Kid be Kid macht, die junge Berlinerin, die gleichzeitig singt, beatboxt, Klavier und Synthesizer spielt und dabei alles von der Klassik über Soul, Singer/Songwriter-Pop bis zum Jazz in ihre Stücke packt. Oder „Purple Is The Color“, eine weitere herausragende junge österreichische Band um den Pianisten Simon Raab, die ebenso mal melodiös und elegant, mal wuchtig und sperrig ihren eigenen Stil gefunden hat. Oder Roman Bobiks eigens für das Festival vom Quartett zum multinationalen Oktett aufgestockte „Wedding Band“, die auf der Basis von Balkan-Sounds und -Rhythmik in diversen Soul und Jazz ausschwärmt. Oder das slowenische Ein-Mann-Orchester Kristijan Krajncan, der – ebenfalls meist gleichzeitig – seinem Cello und Schlagzeug alles Mögliche zwischen Bach und Afrobeat entlockt. Oder ein Matthias Schriefl, der wie eh und je alles bläserisch und kompositorisch Erdenkliche zwischen alpine Volksmusik, Hochdruckjazz und Avantgarde packte. Schon immer jeder Schublade entzogen hat sich der Piano-Solitär Joachim Kühn, der seine wirbelnden Improvisationen mit eigener Harmonik im ersten Konzert nach dem Tod seines Bruders diesem widmete und noch berührender als sonst gestaltete, nicht zuletzt mit einem in seiner Tiefe nicht von dieser Welt stammenden „Stardust“ als Zugabe.

Fast schon konventionell wirkten da das trotzdem souveräne Croonertum eines Jeff Cascaro und die Trio-Entwürfe: der versammelte Klassik-Jazz vom Trio des Bassisten Moritz Götzen, der mediterrane Breitband-Jazz von Angelo Comisso oder die Pflege des Esbjörn-Svensson-Erbes, vor nicht langer Zeit bekanntlich noch revolutionär, durch „Rymden“. Schenken können hätte man sich einzig die deutsche Ludovico-Einaudi-Ausgabe Arnold Kasar. So war das erste „New Colours“ künstlerisch, atmosphärisch wie gesellschaftlich eine runde Sache, der man von Herzen weitere Ausgaben und noch mehr Publikum wünscht.

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