Dissonante Fanfaren kommen einem Hupkonzert im Verkehrschaos gleich. Dazu ein pulsierender Rhythmus, der, gepaart mit den fetten Bläsern in Richtung Gangsterfilm geht. So hört es sich an, wenn es „Mit dem Rollator über Rot“ geht. Ole Sinell, einer der Preisträger des Vierten Kompositionswettbewerbs beim Bundesjazzorchester hat sein aktuelles Stück so getauft. Dass die Musik so klingt wie die Nummer heißt, dafür sorgten in der Bielefelder Oetkerhalle 19 von insgesamt 38 Musikerinnen und Musikern, die für die aktuelle Besetzung des BuJazzO ausgewählt wurden.
Zuvor war man eine Woche lang miteinander in der Bundesakademie in Trossingen in Klausur gegangen.„Zukunftsmusik“ heißt die aktuelle, 71. Arbeitsphase des BuJazzO. So ausgeschlafen dieses „Large Ensemble“ unter der Leitung von Niels Klein klingt, mag man gar nicht glauben, dass die Musikerinnen und Musiker gerade so viele Kilometer und bereits zwei Aufführungen des aktuellen Programms hinter sich hatten. Und ja – diese Band, die sich gerade auf der Bühne in der stilvollen Bielefelder Oetkerhalle zum überzeugenden Konsens aufschwingt, existiert tatsächlich erst seit einer Woche!
Ungefähr 240 Bewerbungen hatte das Projektteam des Deutschen Musikrats bekommen – zirka 120 Kanditatinnen und Kandidaten kamen zum Probespiel. 38 sind schließlich ausgewählt worden, um zwei Jahre die wohl prominenteste Jazz-Nachwuchsband im Lande zu verkörpern. Das Konzept ist seit 35 Jahren bewährt: Es gibt drei Arbeitsphasen im Jahr, ebenso zahlreiche attraktive Gastspiele. In diesem Jahr stehen Montenegro und Ecuador auf der Agenda, im nächsten Jahr kommt es zu einer Kooperation mit der WDR-Big Band. Nico Wellers, Luzie Micha und Paul Lüpfert, die allesamt an der Essener Folkwang Universität studieren, wirken im Pausengespräch sichtlich euphorisiert von den Erlebnissen der zurückliegenden Woche: „Ich bin fasziniert, wie viele unfassbar gute Musikerinnen und Musiker hier zusammen kommen“, sagt Nico Wellers. Zur intensiven Probenphase in Trossingen gehörten Workshops und Jam Sessions, natürlich inklusive viel Geselligkeit: „Es ist toll, hier viele neue Leute kennenzulernen“ freut sich Luzie Micha. Auch Paul Lüpfert ist voller Aufbruchstimmung: „Wir haben schon in dieser ersten Woche so unfassbar viel Spaß gehabt, ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie das erst in zwei Jahren ist.“
Offen für alle Einflüsse aus der Gegenwart
Im Jahr 1988, also vor genau 35 Jahren wurde das BuJazzO von Peter Herbolzheimer gegründet. Ich erinnere mich an frühe Konzerte, bei denen mich vor allem diese Mischung aus gründlicher Präzision und Respekt vor der Jazzhistorie begeisterte. Ursprünglich wollte ich den Beteiligten hier in Bielefeld die Frage stellen, was heute anders ist. Aber schon nach kurzer Zeit hat die Musik dieses Abends diese Frage von selbst beantwortet: Bei aller Disziplin und Präzision ist Jazz doch heute viel mehr als eine Stilrichtung, wo sich eine Haltung voller Diversität immer weiter ausbreitet und sich ständig neuen Einflüssen öffnet. Diesem Umstand trägt vor allem der Kompositionswettbewerb beim BuJazzO Rechnung. Sieben Werke wurden von der Jury (Niels Klein und Hendrika Entzian) ausgewählt. Weitere vier Kompositionsaufträge wurden vergeben, die nun in der Konzertsaison 2023/24 präsentiert werden. Das humoristisch auskomponierte Bild über die Rotlicht-Überquerung mit dem Rollator ist nur eines der Früchte, die aus diesem Nährboden hervor gegangen sind. Jorik Bergman hat die auftrumpfende Eröffnungsnummer des Abends „No Fun Allowed“ betitelt – eine ironische Anspielung? Spaßfaktor gibt es allemal zuhauf. Auch für Clara Vetter, die unter anderem in ihrem Stück „Kraut” die Klangfarben auftürmte. Im zweiten Set treibt Pascal Klewers herausforderndes Stück „Giga“ die kollektive Spiellust der Truppe auf den Siedepunkt. Posaunen reiben sich in harscher Polyphonie. Eine Art Neobop-Hitzigkeit, mit welcher die Nummer schon zu Beginn loslegt, steigert sich in ein immer dichter werdendes Geflecht – fast schon zappaesk mutet dieses an. Das ist genau richtig für Carlotta Armbruster, damit sich diese mit ihrer Tenorposaune in ein heißes Solo stürzt. Sie und sämtliche anderen Kollegen, die zum Solieren nach vorne kommen, demostrieren, was es heißt, sich „frei“ zu spielen. Eine immense Bereicherung ist die Einbeziehung der Sparte Vokalensemble. Eva Swiderski, Lion Wegmann und Erik Leuthäuser haben im Rahmen des Kompositionswettbewerbs hinreißende neue Stücke auf dem spannenden Grat zwischen Jazz-Phrasierung und Vokal-Polyphonie kreiert. Ensemblegesang ist in der aktuellen Jazzszene ohnehin ein besonders unverbrauchtes Format mit noch viel Zukunft. Vielfalt und Aufbruch schließen beim BuJazzO ein Bekenntnis zu höchster Qualität keinesfalls aus: „Wir haben hier richtig hart gearbeitet. Zum Beispiel, wenn es darum geht, einen Akkord in diesem großen Gefüge intonatorisch zum Klingen zu bringen oder wenn Phrasierungen des Gesamtsounds an das eigene Instrument angepasst werden. Man muss einfach die Ohren ständig überall haben.“
Die Freiheitsliebe liegt in der DNA
Das BuJazzO ist ein Projekt an der Schwelle von der Ausbildung zur Professionalität und wirkt als Vernetzungsinstanz nachhaltig. Wenn seine Mitglieder nach zwei Jahren wieder auseinander gehen, leben Kontakte und Projekte in der Regel immer weiter. Die Erfahrung zeigt, dass die gemeinsame Phase in dieser Band auch für die weitere künstlerische Sozialisation prägend bleibt. Das kann Dominik Seidler, seit zehn Jahren Projektleiter für das BuJazzO beim Deutschen Musikrat nur bestätigen. Zur prägenden Erfahrung im BuJazzO gehört, dass viele sich auch ermutigt fühlen, als Pädagogen an die Basis zurückzukehren. Zum Beispiel der im Publikum anwesende Stephan Schulze (BuJazzO-Mitglied 1989–1992), der heute neben dem JugendJazzOrchester NRW auch die vielbeachtete Jugendbigband der Musik- und Kunstschule Bielefeld leitet. Dominik Seidler zitiert auch Matthias Schriefl, der auf das Privileg einer solchen Institution wie dem BuJazzO verweist: „Ich bin glücklich, in einem Land zu leben, in dem es ein Bundesjazzorchester gibt“. Seidler steht immer noch unter dem Eindruck der von Schriefl im Jahr 2021 geleiteten Alpenjazz-Phase, die so ganz das Wesen dieses außergewöhnlichen Musikers verkörpert: „Wir waren auf Wanderschaft in den Bergen und haben unter anderem auf Almwiesen Musik gemacht. Wir kamen wieder raus ans Licht. Das war nach der Corona-Zeit eine wichtige Erfahrung“.
Wer Jazzmusikerin oder Jazzmusiker wird, hat vermutlich schon eine überdurchschnittlich große Portion Freiheitsliebe in der eigenen DNA. Wie das BuJazzO für so etwas einen Resonanzraum liefert, beschreibt Bandleader Niels Klein im Gespräch nach dem Konzert: „Hier kommen Musiker mit verschiedenen Hintergründen rein. Manche sind experimenteller und andere stärker auf die Jazzgeschichte konzentriert. Es kommt darauf an, dass sich alle voneinander anstecken lassen und sich über die Musik eine gegenseitige Wertschätzung ausbreitet“. Das klingt so, als wäre diese Big Band der Idealtypus einer Gesellschaftsform, mit der die Welt sicherlich etwas besser funktionieren würde, als sie es im Moment tut.
Und deswegen ist das „Dutch“ Roulette, welches zum Finale dieses Abends in der Rudolf-Oetker-Halle gespielt wird, eine friedlichere Spielart als die „russische“ Variante. Hier wird nicht geschossen, sondern es gilt, ein spontanes Solo „abzufeuern“. Wer dran ist, das entscheidet ein Glücksrad, an welchem Niels Klein dreht. Eine Jazzcombo ist irgendwie doch das Abbild einer ideal funktionierenden Demokratie...