Die große Pianistin Carla Bley und ihr Lebenspartner, der Bassist Steve Swallow entstiegen beim Moers-Festival gleich zweimal der schwarzen VIP-Limousine. Einmal, um im Trio zusammen mit dem viel jüngeren Andy Shepphard eine der intimsten und sensibelsten Jazz-Begegnungen ins Zelt zu zaubern. Da agieren Menschen sensibel miteinander, die einander so vertraut sind und dies auch musikalisch zeigen – was zu den wirklich tief berührenden Momenten des gut besuchten 41. Moers-Festival zählte.
Zum anderen erfuhr die groß erwartete neue Jazzoper „Learning French“ ihre Welturaufführung. Sie will alles sein, aber nicht so wie Carla Bleys erste Jazzoper „Escalator over the Hill“. Die eine war in den frühen 70ern zeitgenössisch und avantgardistisch. Das aktuelle Werk schöpft umso mehr aus dem bewährten Kultivierten und bietet zudem eine humorvolle Story auf. Und wie ein Dortmunder Kinderchor zusammen mit diesen legendären Künstlern nebst einer Bigband musizierte, produzierte dies eine bewegende Sternstunde mehr im Festivalzelt.
Offensichtlich sind auf dem Festival Tendenzen zur notwendigen ökonomischen Verschlankung spürbar. Dass der künstlerische Leiter Reiner Michalke aber dennoch mit solch ruhmreichen Aushängeschildern punkten können, ist nicht zuletzt der Kunststiftung NRW zu verdanken, die zumindest, die bisherigen Projektmittel für das kommende Jahr von 80.000 Euro auf 160.000 Euro verdoppelt hat- so dass es auch jetzt wieder zuversichtlich „Nach dem Festival ist vor dem Festival“ heißen darf! Pfingsten ohne Moers-Festival wäre eine Katastrophe für die Region. Umso mehr, weil in diesem Sommer schon das Duisburger Traumzeit-Festival sterben musste.
Also waren wieder viele Musikbegeisterte hautnah dran an den Demonstrationen von unmittelbarer Schaffenskraft. Die drückte sich vor allem in neuen Konstellationen aus und weniger bei den Einzelsolisten. Kommunikation und Interaktion macht nun eben die improvisierte Musik erst aus. „Am wichtigsten ist es, zu denken aufhören“ benennt der Trompeter Pablo Giw vom neuen Kölner Duo dus-ti das künstlerische Prinzip, um das es gehen soll. In den Moment hinein fallen lassen und bloß nicht überlegen! In Moers griff dieses Duo höchst intuitiv auf Partikel aus Freejazz, Heavy Metal oder persische Musikstile mit ihren Mikrointervallen zurück. Derweil hatten es dem Schlagzeuger Mirek Pyschny vor allem kantige, verschlungene Dubstep-Grooves angetan. Auch der Bassist Robert Landfermann und Schlagzeuger Jonas Burgwinkel inspirierten sich gegenseitig in Echtzeit, und schöpften extrem physisch wirkende Geräuschwelten aus dem Moment heraus.
Noch unvorhersehbarer als auf der Hauptbühne sind in Moers die Klangabenteuer bei den Vormittags-Projekten. Und ein Segen ist es, dass trotz weggefallenem vierten Festivaltag diese Morning Sessions auch am Montag noch laufen. In diesem Jahr ließen sich hier auffallend viele Musiker aus dem Ruhrgebiet aufeinander ein - virtuos, lautstark, sensibel, spontan!
Reiner Michalkes klug programmierte Mischung setzt auf Pluralität, um die Vielfalt an musikalischen Präferenzen und kulturellen Mileus an diesem Ort zusammen zu bringen. Da gibt es viele Richtungen und Ansätze, nur eben nicht „den“ Jazz. Und vor allem keine Mainstream-Kultur. Aber durchaus große Emotionen, immer wieder!
Etwa, wenn Erik Friedlander allein mit seinem Cello auf imaginäre Roadmovies entführt. Der „American Dream“ kam über das gebannt lauschende und zuschauende Publikum, als Kindheits-Fotos von Reisen durch amerikanische Wüstenlandschaften eingeblendet wurden und die Klanglandschaften, die Friedlander auf den feinfühlig gezupften und manchmal rockig gestrichenen Saiten ähnlich weitläufige Klanglandschaften kreierten. Am ehesten sind diese noch mit den meditativen, oft rhythmisch entspannt vorwärtstreibenden Gitarrenfiguren eines Ry Cooder oder John Fahey zu vergleichen.
Spannend auch die schweizerisch-norwegisch-englische Formation „Phall Fatale“. Hier groovten zwei Soul- und Hiphopsängerinnen, zwei Bässe und der Schweizer Schlagzeuger Freddy Studer um die Wette, kreierten eine gleichsam verquere wie tanzbare Musik, bei der eine coole spoken words–Ästhethik, ein interessanter Band-Sound und ein viel rhythmischer Kraft einen Weg in die Zukunft aufzeigte. Keine Musik zum Stillsitzen! Schade dass überall Stühle standen und jedes freie Bewegen vor der Bühne von eifrigen Security-Aufsehern unterbunden wurde. Bands wie diese wirken in Moers sicherlich innovativer als die bewährten Latin-, Funk- und Soulabende, die jeden Festivaltag beschlossen und sich nach wie vor ungebrochener Popularität erfreuen. Von daher erweisen sie sich als eine risikoarme Investition. Und James Blood Ulmer, der selbst die Bühne erst nach einer gefühlten halben Stunde betrat, hatte neben reichlich aufgemotztem Star-Gehabe doch eine mächtig abrockende Band zu bieten. Vor allem: Seine Gitarrenlicks, vor allem aber seine Stimme ziehen immer noch hinein ein die ewigen Tiefen des Blues.