Ein Grüner Hügel in der Sächsischen Schweiz: Wo Dmitri Schostakowitsch 1960 sein 8. Streichquartett komponierte, gibt es seit fünf Jahren ein internationales Stelldichein der Moderne. Da trifft Musik auf Meinung, wird Inhalt mit Opulenz verbunden und ereignet sich Jahr für Jahr ein kulturvolles Wunder.
Mit ihrem fünften Jahrgang haben die Internationalen Schostakowitsch Tage Gohrisch letztmals im Herbst stattgefunden, von nun an sollen sie an den Sommeranfang gelegt werden. Das ist in diesem Jahr vielleicht das markanteste Novum des 2010 in einer Scheune gegründeten Festivals. Diese „Konzertscheune“ musste anschließend jedoch wieder für ihren eigentlichen Zweck genutzt werden, für die Schostakowitsch-Tage ist ab 2011 eigens ein großes Zelt errichtet worden. Das funkelte seitdem jedes Mal fast diamanten in den Himmel der Sächsischen Schweiz, doch weil der Auf- und Abbau des von einem Zirkus zur Verfügung gestellten Zeltes derart aufwändig war, hat man sich entschlossen, ab 2015 wieder die Scheune zu nutzen. Das geht nur vor der Erntezeit, denn solange ist der Ort, wo alles begann, noch frei von jeglichem Stroh. Aber es spart nicht nur eine Menge Geld, sondern hilft auch der Akustik, und obendrein bietet der Juni mehr laue Abende als der Herbst. Als hätte der September in diesem Jahr nur mit Bedauern Abschied von den liebgewonnenen Musiktagen nehmen können, hat er den fünften Jahrgang denn auch reichlich regnend begossen.
Drei Tage im Herbst
Das trübte ein wenig den Eröffnungsabend, als Isabel Karajan ihr Projekt „Fräulein Tod trifft Herrn Schostakowitsch“ präsentierte. Der Dauerregen trommelte aufs Zeltdach, als forderte er ein weiteres Verbleiben der drei Tage im Herbst. Doch ungeachtet des einen oder anderen weggeprasselten Wortes – Texte von Schostakowitschs Zeitgenossen, die das Thema Angst zum Inhalt hatten und genial ins 8. Streichquartett und andere Musik des russischen Meisters verwoben wurden – hat das Wetter just zur eher gedrückten Stimmung gepasst. Die musikalisch-literarische Collage, szenisch von Klaus Ortner eingerichtet, geriet jedenfalls zu einem unvergesslichen Auftakt, was neben den starken inhaltlichen Eindrücken sowohl am bezwingenden Spiel von Isabel Karajan als auch am höchst engagierten Musizieren des Dresdner Streichquartetts lag. Gemeinsam mit dem Pianisten Jascha Nemtsov haben die Musiker der Staatskapelle einen sowohl spannenden als auch würdigen Abend gestaltet. Damit wurde obendrein eine Brücke zu den Osterfestspielen Salzburg erfährt, wo „Fräulein Tod“ 2015 aufgeführt wird – Gohrisch dürfte damit im internationalen Festspielreigen angekommen sein!
Das Thema Angst, von dem Dmitri Schostakowitsch ja zeitlebens beherrscht worden war, hat nicht nur diese ergreifende Collage angeregt, sondern zog sich in gewisser Weise auch durchs diesjährige Festivalprogramm. Das war wie immer – Gohrisch hat gleich „groß“ begonnen und sich nicht erst allmählich gemausert – dramaturgisch blitzgescheit konstruiert. Die Internationalen Schostakowitsch-Tage erweisen sich damit als Ausnahmefestival auf künstlerisch höchstem Niveau. Und zahlreiches Publikum aus der Region sowie aus aller Welt gibt allen daran Beteiligten Recht. Diese Sprachvielfalt inmitten eines kleinen Kurorts in der Sächsischen Schweiz war überraschend.
Vor allem freilich vermutet man an solch einem Ort kaum ein derartiges Aufeinandertreffen von Musikerinnen und Musiker der Kremerata Baltica, die gemeinsam mit Künstlerinnen und Künstlern der Staatskapelle zu hören waren, man staunt über Schostakowitsch-Experten von Krzysztof Mayer, Bernd Feuchtner sowie Emmanuel Utwiller vom Schostakowitsch-Centre in Paris, und Gourmets dürfen sich weiden am Stelldichein von Solistinnen und Solisten wie Anna Vinnitskaya und Nurit Stark, Gidon Kremer und Omer Meir Wellber, Rebecca Beyer und Alexei Mochalov, um nur eine kleine Auswahl der durchweg ohne Honorar auftretenden Mitstreiter zu nennen.
Selbstverständlich erklang im 5. Jahrgang wieder das in Gohrisch entstandene 8. Streichquartett, es erklangen darüber hinaus Schostakowitschs Klavierkonzerte Nr. 1 und 2 sowie weitere Kammermusik einschließlich Bearbeitungen des Meisters. Natürlich gehörten ihm auch die letzten Takte des Abschlusskonzerts, wo den meisten Besuchern mit der geradezu selbstmörderischen Satire „Antiformalistischer Rajok“ gewiss eine Überraschung geboten wurde. Dieses erst lange nach Schostakowitschs Tod uraufgeführte Stück nimmt die Dummheit der Ideologie aufs Korn und verfremdet die Bevormundung durch den doktrinären Stalinismus in Orgien des Jubels. Eine derartige Selbstentlarvung hätte für den Verfasser das sichere Aus bedeutet. Der Bass Alexei Mochalov hat seine vier Rollen mit ungeheuer wandelbar interpretiert, das Publikum wurde gar zum Mitklatschen hingerissen; die Bitternis dieser nicht nur komödiantischen Farce ist über den Klamauk hoffentlich auch verstanden worden.
Freunde, Schüler und Schüler von Schülern
Doch in Gohrisch steht nicht nur Schostakowitsch selbst auf dem Programm, so unerschöpflich sein Œuvre auch ist. Überzeugende Brücken wurden zu Vorbildern, Freunden, Schülern sowie zu Schülern von Schülern gebaut. Mehrere Anklänge gab es an Johann Sebastian Bach, dem Anfang und Ende aller Musik. Dessen Präludien und Fugen aus dem „Wohltemperierten Klavier“ dienten Schostakowitsch zu einem eigenen Reigen, den Jascha Nemtsov mit dem Vorbild verband. Sofia Gubaidulina nahm in ihren „Reflexionen über B-A-C-H“ direkten Bezug auf den großen Tonsetzer, der auch ein erstmals ausgerichtetes Kirchenkonzert im nahen Königstein bereicherte. Organist Friedemann Herz sowie Peter Kopp und das Vocal Concert Dresden haben darin gemeinsam mit Mitgliedern der Kremerata Bach, Schostakowitsch und Gubaidulina zusammengeführt.
Eine veritable Uraufführung von Sofia Gubaidulina gestaltete sich als einer der Höhepunkte im 5. Jahrgang: „So sei es“ ist ein Viktor Suslin gewidmetes Werk für Violine, Kontrabass, Klavier und Schlagzeug, das von Nurit Stark, Alexander Suslin, Cédric Pescia und Taiko Saito mit ergreifender Innigkeit vorgetragen worden ist. Diese Komposition ist in gleicher Besetzung bereits für CD eingespielt worden (SACD: BIS-2146).
Musik von Viktor Suslin erklang ebenso wie von Mieczyslaw Weinberg, dem Schostakowitsch-Schüler und Gubaidulina-Lehrer. Dessen 4. Kammersinfonie hat die Kremerata Baltica als ebenso mitreißende wie andächtige Sicht in jenseitige Welten gestaltet. Die deutsche Erstaufführung von Gija Kantschelis „Chiaroscuro“ gelang als äußerst bildhafter Ausflug in die Tiefen abgründiger Lebenserfahrungen aus Hell und Dunkel.
Gidon Kremer, der schon zum zweiten Mal nach Gohrisch kam, erhielt diesmal mehr als verdient den Internationalen Schostakowitsch Preis, der in den vergangenen Jahren an Rudolf Barschai, Kurt Sanderling, Michail Jurowski und Natalia Gutman ging. Damit sollte der künstlerisch über alle Zweifel erhabene Grenzgänger gewürdigt worden, der sein Leben ganz in den Dienst der Musik gestellt hat.
Nach solch fruchtbaren Tagen im Zeichen von Schostakowitsch fiel das Warten auf den nächsten Jahrgang des immer noch jungen Festivals persönlich sehr schwer. Dass die Wartezeit nun ein wenig kürzer ausfällt – die 6. Internationalen Schostakowitsch Tage Gohrisch finden vom 19. bis zum 21. Juni 2015 statt – ist ein versöhnlicher Gedanke nach drei spannenden Tagen in Gohrisch.
MDR Figaro, Medienpartner der Internationalen Schostakowitsch Tage Gohrisch, sendet am 17. Oktober um 20.05 Uhr einen Querschnitt des diesjährigen Festivals.