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„Ouverture spirituelle“ mit dem Sufi-Orden Al-Tariqa al-Gazoulia und Frank Stadler.  Foto: Salzburger Festspiele / Stefan Beyer
„Ouverture spirituelle“ mit dem Sufi-Orden Al-Tariqa al-Gazoulia und Frank Stadler. Foto: Salzburger Festspiele / Stefan Beyer
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Achtzig Konzerte und eine neue Oper

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Die Salzburger Festspiele sind auch ein Plädoyer für die Zukunft unserer Musikkultur
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Es ist schon ein wenig seltsam mit den Salzburger Festspielen: Alles ist Oper.Alle Erregungen drehen sich um sie. Verdis „Troubadour“ avanciert zum abendländischen Zentralereignis, nur weil Anna Netrebko mitsingt. Nichts gegen die Sängerin, sie agiert und singt furios. Das gehörte schon immer zur Oper. Ein bisschen dürftig erscheint es gleichwohl schon.

Daneben hatte es die einzige Novität nicht leicht – weil sie leise, aber umso intensiver daherkommt: Marc-André Dalbavies „Charlotte Salomon“, die Geschichte der jüdischen Malerin. Ausgespannt zwischen ihrer Kunst und den Anforderungen des alltäglichen Lebens – Untertitel des Werkes: Theater und Leben – stirbt sie im Konzentrationslager des Dritten Reiches. Theater und Leben enden in einer von Menschen herbeigeführten unmenschlichen Katastrophe. Dalbavies Oper beeindruckt durch ihren hohen Ernst, auch in der musikalischen Erfindung. Dem Komponisten waren auch Aufführungen mehrerer seiner konzertanten Werke gewidmet. Darauf soll in der nächsten Ausgabe ein Porträt Marc-André Dalbavies folgen, verbunden mit einem Überblick über das französische Musikschaffen der Gegenwart.

Seit der Ära Mortier/Landesmann gewinnen neben der Oper und dem Schauspiel die Konzerte für die Festspiele eine immer größere Bedeutung, für manche Besucher sind sie sogar das Interessanteste. Für die Festspiele selbst bilden die Konzerte sozusagen das dritte Standbein, vor allem finanziell, weil keine kostenträchtigen szenischen Aufführungen nötig sind. Die Solistenkonzerte im meist ausverkauften Großen Festspielhaus bringen trotz hoher Gagen für berühmte Instrumentalisten bei ebenfalls stolzen Eintrittspreisen recht ansehnliche Überschüsse in den Gesamtetat ein. Die Festspiele müssen nur darauf bedacht sein, dass ihnen die großen Namen für die Anziehung des Publikums, aus welchen Gründen auch immer, nicht abhanden kommen. Die Pianisten Grigory Sokolov, Evgeny Kissin und, seit drei Jahrzehnten, Maurizio Pollini waren auch diesmal in Salzburg, und auch Anne-Sophie Mutter erschien nach zwanzig Jahren Pause, wieder einmal, mit Sonaten von Mozart, Beet-hoven, Penderecki und André Previn.

Wer sich entschließen kann, sechs Wochen lang in Salzburg nur Konzerte zu besuchen und zu erhören, kann sich in der nächsten Saison die oft etwas mühselige und zeitraubende Fahrt (Verkehr) in die heimische Philharmonie ersparen: 80 Konzerte in 45 Festspieltagen, davon 12 als Doppelkonzerte (Wiener Philharmoniker, Mozartmatineen) – das könnte doch jedem Melomanen genug sein fürs ganze Jahr ... Zumal auch die diesjährige Programmgestaltung etliche gewichtige und spannende Höhepunkte enthielt. So den großen Zyklus mit allen neun Sinfonien Anton Bruckners, gespielt von fünf Orchestern unter neun Dirigenten, was interessante Vergleiche ermöglichte, für die Interpretation und auch für die Klangcharakteristik der einzelnen Orchester. Die Wiener übernahmen die vier Werke, die sie einstmals uraufgeführt hatten: die Sinfonien 2, 4, 6 und 8, dazu noch die „Dritte“ in d-Moll. Der anderen Sinfonien nahmen sich das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (Nr. 5 in B-Dur), das Philharmonia Orchestra London (Nr. 9, die drei vollendeten Sätze), das ORF Radio-Symphonieorchester Wien sowie das Gustav Mahler Jugendorches-ter (Nr.7 in E-Dur) an.

Bruckner-Deutungen

Dass die „Wiener“ mit ihrem geschmeidigen Streicherklang, in den selbst die stärksten Bruckner-Bläserchoräle noch gleichsam „eingebettet“ erscheinen, ein genuines Bruckner-Orchester sind, weiß man schon. Gleichwohl reagieren sie elastisch und kooperativ auf unterschiedliche Dirigenten-Handschriften. Riccardo Muti fügte der „Sechsten“ in A-Dur eine beinahe elegante Italianità hinzu, ohne den formalen Aufbau der Sinfonie in Schönklang aufzulösen. Dieser Gefahr entgeht Daniel Barenboim bei der „Romantischen“, der „Vierten“ in Es-Dur, nicht immer. Energischer Zugriff wechselt mit sanftem Auskosten klangfarblicher Details, alles liebevoll ausgeführt und ein wenig zu linear eindimensional dahinfließend. Philippe Jordan (Nr. 2 c-Moll) und Daniele Gatti (Nr. 3 d-Moll) möchte man dazwischen einordnen: Flüssig, sehr sicher und professionell gleiten die Sinfonien dahin. Die formalen Eigenheiten der Bruckner’schen Sinfonik werden zwar nicht eingeebnet, müssten aber insgesamt doch markanter herausmodelliert werden. Da könnten sie einiges vom Dirigenten Herbert Blomstedt (Nr. 8 c-Moll) abschauen, und natürlich von den Altmeistern der Bruckner-Interpretation Bernard Haitink und Christoph von Dohnányi, die allerdings mit anderen Orchestern antraten: Haitink mit den großartigen BR-Sinfonikern, Dohnányi mit dem Philharmonia Orchestra. Ist es eine Frage der Lebenserfahrung (beide gehören dem Jahrgang 1929 an, Blomstedt 1927)? Musik hatte für sie nach dem Krieg vielleicht eine hohe persönliche existenzielle Bedeutung. Ein Versöhnungspotential nach der fürchterlichen Katastrophe. Das könnte auch Einsichten in das Wesen von Musik, ihre seelischen Kraft, ihre emotionalen Auswirkung auf den Menschen vertiefen. Die Bruckner-Darstellungen der drei „Alten Großen“ blickten gleichsam aus Höhe und Tiefe über die Noten hinaus in die Geheimnisse dieser Musik. Es waren Interpretationen von eindrucksvoller Geschlossenheit, abstrahlender, nie nachlassender Energie, spannungsvoll im formalen Aufbau und den thematischen Setzungen und Entwicklungen. Große Symphonik eben. Faszinierend. Wunderbar, es erleben zu dürfen.

Zwei andere Bruckner-Sinfonien sollen nicht verschwiegen werden: Chris-toph Eschenbachs Interpretation der „Siebten“ mit dem Gustav Mahler Jugendorchester überzeugte durch Professionalität und formale Disziplin. Der charakteristische Bruckner-Klang trat plastisch hervor, Eschenbachs Dispositionen und sein Überblick über alles konnten beeindrucken. Die „Erste“ in c-Moll gab dem Radio-Sinfonieorchester Wien unter Cornelius Meister Gelegenheit, einmal mehr seine außerordentlichen Qualitäten zu zeigen, nicht nur hinsichtlich technischer Brillanz, vielmehr auch durch eine ruhige interpretatorische Kraft. Und im noch jungen Cornelius Meister (Jahrgang 1980) reift hörbar ein künftiger genuiner Bruckner-Dirigent heran, wie einst in Chris-toph von Dohnányi, als dieser Generalmusikdirektor in Lübeck war und sich in einem Gespräch geradezu hymnisch über Bruckner begeisterte. Im Vorjahr Mahler, diesmal Bruckner – beide Zyklen gaben den Festspielkonzerten ein besonderes Profil und zusätzlich eine feste dramaturgische Linie. Man sollte es fortsetzen, Schostakowitsch hat große Sinfonien komponiert, Mariss Jansons wäre dafür der kompetente Dirigent. Auch Henze schrieb neun Sinfonien, die vor einigen Jahren einmal im Pariser Rundfunk „live“ präsentiert wurden, wobei man fast etwas beschämt feststellte, dass der Komponist nicht nur „schöne Opern“, sondern quasi nebenbei ein großes sinfonisches Gesamtwerk geschaffen hatte, das es Wert wäre, auch in Salzburg einmal komplett vorgestellt zu werden.

Nach nur drei Jahren verlässt Alexander Pereira Salzburg wieder – nicht unbedingt in Frieden. Einiges aber wird bleiben: das „Salzburg Contemporary“ – die Neue Musik gehört seit den Tagen von Hans Landesmann und Gerard Mortier fest zum Konzertprogramm der Festspiele, auch zur Oper. Und die „Ouverture spirituelle“, der ersten Opernpremiere vorangestellt, wird weiterhin für zehn Tage den Festreigen stiller, nachdenklicher mit geistlicher Musik eröffnen. Sinnstiftend ist es auch, die Musik und Rituale anderer Religionen nach Salzburg einzuladen.

Spirituelles Doppelkonzert

„Christentum und Islam“ hieß diesmal das Thema, und es war den Festspielen gelungen, den Sufi-Orden Al-Tariqa al-Gazoulia aus Kairo nach Salzburg einzuladen. In der Kollegienkirche erklangen Sufi-Gesänge und orientalische Instrumentalmusiken. Es war das erste Mal, dass der Orden seine heimischen Mauern überhaupt zu einem Gastspiel verließ. Das Bewegendste an dieser wunderbaren Begegnung geschah im dritten Auftritt, als sich der Salzburger Geiger Frank Stadler, Konzertmeister des Mozarteumorchesters, in den Kreis der Sufi-Sänger setzte, deren Gesänge mit einer Bach-Partita und in Improvisationen daraus aufgriff zu einer Art „spirituellem Doppelkonzert“ – unwillkürlich traten dabei Bilder aus dem furchtbaren Geschehen dieser Tage im Nahen Osten auf: was für ein Kontrast zum Bild in der Salzburger Kirche. Es müsste die Zukunft sein. Wann? Tröstlich bei allem: es gibt in den islamischen Ländern immer mehr Komponisten, die in unseren Konzertsälen, vor allem bei den Festivals mit Neuer Musik, mit ihren Werken hervortreten. Sie leben zum Teil sogar in Deutschland und anderen westlichen Orten, sie wirken produktiv als Vermittler, wenn sie moderne Komponiertechniken mit ihren ursprünglichen Lebensgefühlen verschmelzen. Am weitesten darin ist vielleicht der palästinensisch-israelische Komponist Samir Odeh-Tamimi gekommen, wenn er in einem Auftrag für die Festspiele Texte und Betrachtungen über den Sufi-Mys-tiker Mansúr Al-Halládsch in ein Werk für großen Chor, 4 Blechbläser und 2 Schlagzeuger einbringt: eine hochexpressive, dicht komponierte Partitur ist dabei entstanden, eindrucksvoll dargestellt vom Chor des Bayerischen Rundfunks, von Mitgliedern des BR-Orchesters und dem für solche Aufgaben prädestinierten Dirigenten Rupert Huber.

Und noch andere, stille Gedanken kamen einem, wenn man in vielen Konzerten saß: zum Beispiel bei Rudolf Buchbinder, als er in seinem Beethoven-Zyklus im letzten Konzert die drei späten Klaviersonaten op. 109, 110 und 111 ohne störende Pause zu einem Triptychon verband, ähnlich wie zuvor Harnoncourt es mit den drei letzten Sinfonien Mozarts schon vorgenommen hatte. In der Konzentration fand Buchbinder zu einem wunderbar-intensiven, transzendierenden Beethoven-Ton, der sich hinter den Noten gerne verbirgt: Die „Ouverture spirituelle“ durchzog das ganze Festspiel der Konzerte.

Das sollte nicht ohne Folgen bleiben: Schon Beethoven klagte einmal in einem Brief an eine junge Schülerin, der er in ein kleines Klavierstück einige Widerborstigkeiten einkomponiert hatte, dass es die Leute nicht verstehen würden, aber es sei nun einmal Schicksal, dass vielen dafür der Geist fehle. Das gilt heute besonders. Musik gilt immer stärker als Entertainment, auch die sogenannte „Ernste“. Den Geist ersetzt dabei die Einschaltquote. Die „E-Musik“ in all ihren Erscheinungsformen bis zum heutigen Tag ist auch im Abendland stets Teil der Geistesgeschichte gewesen. Bei den Salzburger Festspielen durfte man es wieder einmal erfahren. Es ist aber auch eine Verpflichtung für die Zukunft.

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