Uraufführung von Matthias Hermanns „Die Luft hier: scharfgeschliffen“ in Berlin. An den Anfang ihres diesjährigen Festivals „Infektion!“ stellte die Berliner Staatsoper im Schillertheater eine in vieler Hinsicht ungewöhnliche Musiktheater-Uraufführung. Matthias Herrmanns Musiktheater „Die Luft hier: scharfgeschliffen“ hat das Ziel, „individuelle, gesellschaftliche und politische Deformationen [...] sicht- und hörbar“ zu machen. Dabei soll das Publikum die verschärften Bedingungen von Isolationshaft am eigenen Körper spüren.
Die Intention der Veranstalter setzt auf einen wiederholten Besuch dieses Musiktheaters: um Matthias Hermanns Komposition in ihrer intendierten Interpretationsbreite erleben zu können, ist es erforderlich, mehrere Aufführungen zu besuchen – denn jede Vorstellung soll und wird anders ausfallen. Der Komponist hat für jedes Instrument in jeder Szene mehrere Töne und mehrere musikalische Figuren vorgegeben, und jedem der fünf Instrumentalisten ist es freigestellt, welche Passagen er spielen will – oder ob er es vorzieht, in einem der sieben Szenen der umspannenden Partitur lieber zu schweigen. Die Solisten müssen Töne aus dem Raum auffangen und ihre Gesangsphasen dementsprechend gestalten. Vorhandene Referenzpunkte sind bewusst nicht klar gesetzt, der Dirigent ist ein an den Rand des Geschehens gedrängter Registrator der initiierten Anarchie. Diese jedoch verlangt es, aufeinander zu hören und in der Selbstgesetzgebung des Subjekts selbst musikalische Taten zu kreieren. Die Protagonisten, ob singend oder sprechend, müssen sich bemühen, ihre Rollentexte jedes Mal neu mit den Klängen zu koordinieren.
In dem von Stefan Britze originell eingerichteten Raum der Werkstatt sorgt die Umsetzung von Matthias Herrmanns Partitur für veränderte und platzbedingt auch partiell reduzierte Wahrnehmung. Grelles Licht steht für die „weiße Folter“ in Stuttgart-Stammheim, die 24-stündige Neonlicht-Bestrahlung zum willkürlichen Verlust von Tag und Nacht-Empfinden der isoliert inhaftierten RAF-Terroristen. Der Raum ist zweigeteilt, einmal klinisch weiß, mit Spuren vergeblicher Fluchtversuche in den hermetischen Wänden, einmal mit verspiegeltem Fußboden. Zunächst in einer der Zuschauergruppen sitzend, bewegt sich Ossip Mandelstam auf weißem Boden und schreibt sein Vermächtnis an eine Wand. Auf verspiegeltem Terrain irrt Ulrike Meinhof herum. In seiner Partitur, deren Textauswahl von Matthias Herrmann gemeinsam mit Ernst Poettgen vorgenommen wurde, heißen Hartmanns Protagonisten nur „die Gefangene“ und „der Dichter“.
„Drei Frauen“, namenlose Wärterinnen, bewegen sich in weißen Kitteln (Kostüme: Julia Harttung) durch beide Räume. Räumlich ungebunden hingegen ist die Kunstfigur des Dschinn (Bariton Martin Gerke): er kommt und geht, geistert zischend, schnalzend und Wortsilben multiplizierend inmitten des an sechs Punkten im Grundraum und auf zwei Sitzreihen auf der Empore verteilten Publikums, mal neben dem einsamen Cello (Alexander Kovalev), bei dem zwischen Bassklarinette Klarinette und Triangel wechselnden Holzbläser (Matthias Glander) oder dem in Lachenmann-Manier auch auf sein Mundstück schlagenden, seine Tonfetzen zumeist mit Dämpfer produzierenden Trompeter (Peter Schubert). Die unberechenbaren aphoristischen Klangeruptionen, insbesondere der beiden Schlagzeuger (Matthias Marckardt, Martin Barth) sollen mit den Gefangenen zugleich auch das Publikum verstörend verunsichern und durch Erschrecken destabilisieren, behutsam angereichert durch Raumklang-Live-Elektronik (Sébastien Alazet).
Als Dichter Ossip Mandelstam (auf welchen auch der Titel dieses Bühnenwerks zurückgeht) erzeugt Thomas Wittmann mit seinen melodramatisch gegen die Aleatorik der Orchestermitglieder ankämpfenden Texten die nachhaltigsten Eindrücke des Abends. Die Sopranistin Olivia Stahn hat auf die in jeder Probe und Aufführung in neuen Kombinationen und Abfolgen erklingenden Musikbausteine mit eigener Tongebung singend zu reagieren: räuspernd, röchelnd und hauchend, notiert sie mit Bleistift in einem Notizbuch manisch ihre schwindenden Eindrücke von Umwelt. Einmal fängt sie aus den lyrischen Erzeugnissen des Dichters telepathisch das Wort „Ritterlichkeit“ auf.
In der Inszenierung von Hans-Werner Kroesinger vertreiben sich die drei auch lautgebenden Aufseherinnen (Stelina Apostolopoulou, Jelena Banković, Ivi Karnezi) ihre Zeit mit stumpfsinnigen Spielen. Schere-Stein-Blatt wird geschliffen verschärft mit dem Kopfabschlagen der Verliererin in der jeweiligen Spielrunde. Die Geräusche ihrer Papierkostüme im Wind ihrer Drehungen oder das Schlagen mit ihren Gummihandschuhen auf ihre Kostüme, gehören ebenso zur gezielt erzeugten Geräuschebene dieser Partitur, wie das Kartenmischen des Dschinn.
Erst in der letzten Szene des Abends löst der Regisseur die Strukturen der Raumanordnung auf: Mandelstam gelangt nach Stammheim und Meinhof nach Kolyma. Der auf einer Seite stark verjüngte Raum wird nun wirklich zur einer engen Zelle, in deren Echo die RAF-Terroristin Einzeltöne produziert, hochgeschraubt bis zum C.
Jene Zuschauer, die bei der freien Sitzwahl im Rang Platz genommen hatten, zogen insofern das große Los, als von dort aus das gesamte Geschehen optimal zu überblicken ist.
Zu den Hintergründen von Werk und Inszenierung informiert im Café der Werkstatt diesmal eine kleine Ausstellung, in der – besonders dankens- und nachahmenswert – die Besucher auch in der Partitur blättern können.
Das Uraufführungspublikum, darunter mehrere Regisseur*innen, sorgte, nach knapp achtzig pausenlosen Minuten Spannung, für einhelligen, intensiven Applaus.
- Weitere Aufführungen: 29. Juni, 1., 6., 8. und 10. Juli 2016.