„Fine dell’Opera“ steht am Schluss des Librettos. Ende der Oper. György Kurtág hat lange um diesen Schlusspunkt gerungen. Und nun soll es gar keiner sein. Dabei wurde der Meister der musikalischen Kleinteiligkeit mehr als ein Vierteljahrhundert lang von Alexander Pereira geradezu bekniet, eine Oper zu schreiben. Sie sollte in Zürich herauskommen, als Pereira dort Intendant war, sie war für die Salzburger Festspiele geplant, die Pereira für kurze Zeit leitete, nun wurde sie tatsächlich an der Mailänder Scala uraufgeführt, der Pereira seit 2015 vorsteht.
Das sehr späte Operndebüt des inzwischen 92-jährigen Meisters soll nur eine Momentaufnahme sein, Kurtág arbeitet weiter am „Endspiel“, wie die deutsche Übersetzung von „Fin de partie“ nach dem gleichnamigen Drama Samuel Becketts lautet. Die Uraufführung der vorläufigen Fassung war quasi die Krönung der laufenden Spielzeit, bevor Anfang Dezember die neue Saison mit – wie hier beinahe üblich – einem Verdi eingeläutet wird.
Beckett, der irische Nobelpreisträger von 1969, hat sein Stück hingegen als Schlusspunkt gesehen, um das Ende der Zeit zu beschreiben, das Ende einer düsteren Zeit. Dieses Ende ist Stillstand. Der herrscht auch auf der Bühne der Scala. Denn György Kurtág hat sich streng an die Vorlage gehalten und einem Kammerspiel gleich die vier wie aneinander gefesselten Akteure nahezu bewegungslos verharren lassen. Dennoch leistete der Komponist wesentlich mehr, als das einst so verstörende Endzeit-Drama nur mit Musik zu garnieren. Er lässt sie eindringlich wirken, seine Erstschöpfung in dieser Gattung, sie erzählt und berührt geradezu, wird somit ein Teil des Geschehens um den blinden Hamm, der im Rollstuhl sitzt, dessen beinlos in Mülltonnen steckende Eltern Nagg und Nell sowie den gemeinsamen Diener Clov, eine Figur nahe an Quasimodo.
Was bei Beckett in fast totaler Klaustrophobie ein einziges Zimmer ist, weitet sich hier zum gemeinsamen Haus, das in einem in einem Haus steckenden Haus steckt – und dennoch eine Art Zelle bleibt, aus der es kein Entrinnen gibt. Ja, auch die Inszenierung von Piere Audi und die metallisch dunkle Bühne von Ausstatter Christof Hietzer greifen auf, wie die Musik von György Kurtág das Stück von Samuel Beckett Szene für Szene ausdeutet. Die Klänge sind wie geschichtet, da tönen keine Melodiebögen, sondern werden hier mal durch ein Streicherflirren, da durch einen Bläserakkord, zwischendrin mit düsteren Mahnmalen von Klavier und Akkordeon zum Gesamtwerk errichtet. Kaum mal ein Tutti, statt dessen viel Stille. Begleitmusik zu einem allgemeinen Abschied, als hätte Kurtág die todgeweihten Figuren in ihrer Endzeitstimmung orchestral an die Hand nehmen und vokal charakterisieren wollen. Kein opulentes Werk schicksalhaften Untergangs also, sondern eine wiederum kleinteilige, griffige Akzente setzende Musik, die vor allem in den Gesangspartien für geradezu kommentierende Klangeindrücke sorgt.
Die enorme Spannung der Uraufführung entsteht aus dem Zusammenspiel von inhaltlichen, tönenden und dargestellten Allegorien, von denen das in 14 Szenen gegliederte Spiel durchzogen ist. Der blinde Hamm gleicht einem Despoten, wiewohl er längst machtlos ist. Frode Olsen singt diesen Part mit betörendem Bassbariton, sein fokussierendes Spiel lenkt alle Konzentration auf diesen Ausgebrannten, der die verunglückten Eltern wie Müll entsorgt hat und sich herablassend bis gehässig gegen sie auflehnt. Wenn Hilary Summers ihren Kopf aus der Tonne reckt, scheint diese Nell dem Wahnsinn nahe zu sein; mit einem teils schrillen, berührenden Mezzo unterstreicht sie die Verzweiflung ihrer Figur. Da scheint die Vision, mit der sie den Abend in ihrem Prolog zu Becketts „Roundelay“-Gedicht eröffnen durfte, längst schon gestorben. Für solch einen Reigen ist hier weder der Ort noch die Zeit. Vater Nagg hat sich seinem Schicksal ergeben, der Tenor Leonardo Cortellazzi singt diesen Part zunächst verschmitzt buffonesk und haucht ihn zu guter Letzt schicksalsergeben aus. Sie alle sind auf den mal schmierigen, mal leicht lasziven Diener Clov angewiesen, der das Vierergespann mit den zu Ende gehenden Vorräten versorgt.
Leigh Melrose meistert seine Baritonpartie glanzvoll durchtrieben und genießt die Außenseiterrolle des einzig Beweglichen in diesem zum Stillstand einer alptraumhaften Apokalypse verdonnerten Quartett.
Dirigent Markus Stenz balanciert die Klangstrukturen Kurtágs geschickt und verknüpft die Orchesterbegleitung der Stimmen ebenso konzis wie er mit präziser Akkordschichtung und Pausensetzung erlebbar für Dramatik sorgt. Die unterstreicht auch die heftige Schatten erzeugende Lichtregie von Urs Schönebaum. Lediglich die teils ermüdend langen Umbaupausen (für lediglich minimal neu arrangierte Aufstellungen etwa von Haus und Hamm) stören den Fluss dieses unaufhaltsamen Abgrunds, den Audi in durchaus greifbarer Nähe zu legendär gewordenen Beckett-Aufführungen belassen hat.
Dass sich Teile des Publikums diesem „Endspiel“ nur begrenzt aussetzen wollten und den Scala-Saal vor dem Ende verließen, mag mit Erwartungshaltungen zu tun haben, wie sie ein György Kurtág ganz selbstverständlich nicht bedient. Oder sollte dieser beklemmende Beckett auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Entstehung noch verstören? Wer Kurtágs „Fin de partie“ an dieser traditionslastigen Uraufführungsstätte von Verdi, Puccini & Co. aber bis zum bitteren Ende ausgekostet hat – die überwältigende Mehrheit im Saal –, lieferte nach gut zwei Stunden Spieldauer lautstarken Beifall.