Die neue Spielzeit der Deutschen Oper Berlin steht ganz im Zeichen des italienischen Komponisten Giorgio Battistelli (*1953). Der für Juni 2023 angesetzten Uraufführung seiner neuen Oper „Il Teorema di Pasolini“ ging nun in den Räumlichkeiten des Hauses der Berliner Festspiele eine Präsentation des frühen Musiktheaters „Experimentum Mundi“ voraus.
Krack: Auf der linken Bühnenseite wird ein Ei aufgeschlagen, sein Inneres gleitet aus den Schalenhälften heraus und klatscht leise auf die Arbeitsplatte. Krack… Krack… Krack: Ein zweites, drittes und viertes Ei folgen. Das Klatschen der auftreffenden Eimasse verändert sich, erinnert nun an den Klang eines überdimensionierten Tropfens, der in eine zähe Flüssigkeit fällt.
Dann ein anderer Klang: Der Rührstab eines Pastaio, eines Pastamachers, trifft mit einem Klicken auf die Arbeitsplatte und hebt zu raschen, regelmäßigen Schlägen an, um die Eimasse mit Mehl zu verquirlen. Und fast gleichzeitig setzt auf der anderen Seite der Bühne ein rhythmisches Kratzen und Schaben ein, wenn zwei Schuster ihre Arbeit aufnehmen. Es ist der Klang einer allmählich zum Leben erwachenden italienischen Kleinstadt – oder genauer: ihrer traditionellen Handwerksbetriebe –, der Giorgio Battistellis Komposition „Experimentum Mundi“ von Beginn an prägt. Ein Pastamacher, zwei Schuster, zwei Maurer, zwei Schmiede, ein Steinmetz, zwei Tischler, zwei Küfer, zwei Messerschleifer und zwei Straßenpflasterer heben mit ihren Tätigkeiten an und fügen sich mit ihren je eigenen Rhythmen und den spezifischen Klangqualitäten der benutzten Werkzeuge zu einem immer dichter werdenden Chor aus alltäglichen Geräuschen.
Der Klang des Alltags
28 Jahre alt war der seinerzeit noch unbekannte Battistelli, als er Anfang der 1980er-Jahre die Idee hatte, die Handwerker seiner südlich von Rom gelegenen Heimatstadt Albano Laziale auf die Bühne zu stellen und ihre kunstfertigen Tätigkeiten zum Ausgangspunkt einer (wie es im Untertitel heißt) „Opera di musica immaginistica“ – einem Werk aus „imaginierter“ oder „fantasievoller“ Musik – zu machen. Mittlerweile, mehr als vier Jahrzehnte und 400 Aufführungen nach der Premiere im Jahr 1981, ist „Experimentum Mundi“ zu einem Klassiker geworden, zu einem Paradebeispiel dessen, wie sich Geräusche zu einem Kunstwerk fügen lassen, und gleichzeitig zu einer Grenzerscheinung im Bereich des Musiktheaters.
Dies betrifft beispielsweise die einzigartige Situation der aus Familienbetrieben stammenden Mitwirkenden: Einzelne der 16 Männer sind seit der ersten Aufführung mit von der Partie, bei anderen wiederum hat ein Generationenwechsel stattgefunden, und die Werkzeuge sind längst auf die Kinder oder gar Enkelkinder übergegangen.
Dass das Agieren der Handwerker szenische Qualitäten entfaltet, wird sofort deutlich, denn der ausnahmslos perkussiven Klangerzeugung durch Handgriffe und Werkzeuggebrauch wächst ein visueller Informationswert zu, der weit über das hinausgeht, was sich mit einem traditionellen Schlagzeuginstrumentarium vermitteln ließe. Weil man erlebt, wie auf der Bühne Dinge entstehen: wie eine niedrige Mauer errichtet, ein stämmiges Fass gebaut, ein Straßenabschnitt gepflastert und Messerklingen geschärft werden, wie ein Steinblock durch Bearbeitung mit Hammer und Meißel seine Form verändert, wie sich immer mehr Pasta auf der Arbeitsplatte anhäuft. Bei alldem machen die Handwerker nichts anderes als das, was sie auch in ihren heimischen Werkstätten oder bei ihrer Tätigkeit im Freien tun: Sie erschaffen eine Welt mittels der Kunstfertigkeit ihrer Arbeit – allerdings auf kalkulierte Weise. Denn Battistellis Partitur ist durchkomponiert, die Aktionen und die Benutzung bestimmter Werkzeuge sind zeitlich festgelegt und werden vom Komponisten selbst am Dirigentenpult mit allerlei subtilen Gesten angezeigt, zu Phasen der Verdichtung geformt oder auch in Bezug auf ihre quasi-solistischen Qualitäten aus dem Zusammenhang herausgehoben.
Fein ausgearbeitete Dramaturgie
Das dokumentarische Abbild der realen Welt, das die Handwerker erzeugen, wird auf zweierlei Weise erweitert: Ein Sprecher (Peppe Servillo) trägt in italienischer Sprache Textauszüge aus der „Encyclopédie“ von Diderot und d’Alembert vor, die aus den Kapiteln zu all jenen Handwerken stammen, die auf der Bühne zu sehen sind. Durch die altertümliche Sprache und das mitunter auch befremdliche Vokabular entsteht ein Paralleldiskurs, der, gelegentlich zum Einsatz der Werkzeuge rhythmisiert, die Tätigkeiten auf eine abstraktere Ebene hebt. Darüber hinaus gibt es zwei musikalische Komponenten: Einen Sprechchor aus fünf Frauenstimmen (Ekaterina Baeva, Anna Brady, Janneke Dupré, Amelie Müller, Eun-Nyung Oh), auf der rechten Bühnenseite platziert, setzt Battistelli als gliederndes Element ein. Die Frauen deklamieren und flüstern in rascher Folge Vornamen – darunter auch die der mitwirkenden Handwerker – und schaffen durch den spezifischen Tonfall („misterioso e rituale“) eine gleichsam ritualhafte Rahmung der handwerklichen Praxis. Ein Schlagzeuger (Nicola Raffone) wiederum, in der Bühnenmitte hinter den Handwerkern auf einem Podest agierend, erweitert durch seinen Vortrag die Arbeitsrhythmen in einen jenseits des Alltags liegenden Klangraum, indem er sie aufgreift, durch den Einsatz bestimmter Instrumente einfärbt, verändert oder bereichert.
Insgesamt folgt das knapp einstündige Spektakel nicht nur einer genauestens ausgearbeiteten, immer wieder in zarte, reflexiv wirkende Momente zurückweichenden Dramaturgie, die sich schließlich in einem gewaltig dröhnenden Tutti-Finale entlädt; es entpuppt sich darüber hinaus auch als überraschend kurzweiliger Theaterabend, an den man sich gerne zurückerinnert. Kein Zweifel: Battistelli ist mit „Experimentum Mundi“ eine ganz besondere, höchst kunstvolle und nicht zuletzt gedanklich sehr anregende Vermittlung von Alltag und Kunst gelungen.