Am Ende eines Jahrhunderts zeichnet sich im Bewusstsein der Musikhörer anscheinend ein Sinneswandel ab: Neue Musik wird nicht länger als exterritoriales Experiment, als schrilles Exotikum betrachtet, sondern als ernsthafte Anstrengung vieler engagierter Komponisten, die Sprachlichkeit der Musik für unsere Tage neu zu fassen und zu erweitern, neue, oft ungewohnte klangliche Ausdrucksmittel mit den tradierten zu verbinden, im Aufbruch zugleich die Kontinuität der musiksprachlichen Mittel aufzuzeigen.
Die grossen Festivals der Neuen Musik – in Donaueschingen, in Witten, in Straßburg, in Wien, beim Steirischen Herbst in Graz, beim Éclat-Festival in Stuttgart – erfüllen ihre Bedeutung für die Fortschreibung der Muskgeschichte erst dann ganz, wenn die Impulse, die sie aussenden, auch von anderen Musikstätten aufgenommen werden. In der sogenannten deutschen Musik-und Theaterprovinz ist zunehmend ein verheißungsvoller Ehrgeiz zu konstatieren. In Kaiserslautern war jetzt ein Konzert dem Komponisten Johannes Fritsch gewidmet, das Wert und Wichtigkeit solcher Bemühungen eindrucksvoll belegte. Am Ende eines Jahrhunderts zeichnet sich im Bewusstsein der Musikhörer anscheinend ein Sinneswandel ab: Neue Musik wird nicht länger als exterritoriales Experiment, als schrilles Exotikum betrachtet, sondern als ernsthafte Anstrengung vieler engagierter Komponisten, die Sprachlichkeit der Musik für unsere Tage neu zu fassen und zu erweitern, neue, oft ungewohnte klangliche Ausdrucksmittel mit den tradierten zu verbinden, im Aufbruch zugleich die Kontinuität der musiksprachlichen Mittel aufzuzeigen. class="bild">
Wenn ein so bedeutendes, von der Tradition und einer etablierten Gesellschaft geprägtes Festival wie die Salzburger Festspiele seit fast zehn Jahren der Musik unseres nunmehr endenden Jahrhunderts im Konzertprogramm einen ebenbürtigen Platz neben dem klassisch-romantischen Repertoire einräumt, und wenn ein gar nicht einmal neues, sondern einfach nur neugieriger gewordenes Publikum beginnt, diese Begegnungen mit der Neuen Musik als etwas Selbstverständliches zu nehmen, den Wiener Philharmonikern unter Pierre Boulez zujubelt oder Luigi Nonos „Prometeo“ gar zu einem Kultwerk erhebt, dann bezeugt das allein schon die Veränderungen.
Aber auch an weniger im Blickpunkt stehenden Orten geschieht Bemerkenswertes und Verheißungsvolles. Im schwäbischen Weingarten, einem kleinen Städtchen mit riesiger Klosteranlage, versammelt sich in jedem Herbst eine stets wachsende Zahl neugieriger Musikfreunde um einen eingeladenen Komponisten – zuletzt kamen Wolfgang Rihm, Gerhard Stäbler, Adriana Hölszky. Der Komponist „zum Anfassen“ steigert die Aufgeschlossenheit, seine Anmerkungen zu den eigenen Werken steigern die Aufmerksamkeit, die Erlebnisbereitschaft wächst, die Qualität der Wiedergaben durch renommierte Interpreten der Neuen Musik unterstützt die Vermittlung selbst schwieriger Kompositionen maximal.
Ein anderes, höchst positives Beispiel wäre die Kulturarbeit für die Musik in Gütersloh. Klaus Klein, früher Dramaturg an der Hamburgischen Staatsoper und in Gütersloh seit einem Jahrzehnt als einer von zwei Kulturamtsleitern zuständig für die Musik, brachte den Gütersloher Musikinteressierten die Musica Nova mit derselben „Dramaturgie“ nahe: Der „Komponist zum Anfassen“ unterstützt das Öffnen der Ohren äußerst effektiv. Hans Werner Henze, der berühmte Sohn der Stadt, fand schon zweimal gesteigerte Aufmerksamkeit. Einen tiefen Eindruck hinterließ Sofia Gubaidulina, faszinierend die Begegnung mit Luciano Berio, der das Sinfonieorchester des Westdeutschen Rundfunks mit eigenen Kompositionen dirigierte. Zuletzt stand Olivier Messiaen im Mittelpunkt: die „Turangalila“-Sinfonie erfuhr unter der Leitung von Marc Soustrot mit dem Orchester der Bonner Beethovenhalle eine grandiose Aufführung, die Authentizität und Adel durch die Mitwirkung der Pianistin Yvonne Loriod und deren Schwester Jeanne Loriod an den Ondes-Martinot erfuhr. Yvonne Loriod, die mit dem Komponisten verheiratet war, beschwor in den drei Tagen in Gütersloh die Erinnerung an die Persönlichkeit Olivier Messiaens auf menschlich-sympathische Weise.
In Kaiserslautern, wo das Kulturamt der Stadt in seiner Kammerkonzertreihe jeweils ein Programm einem lebenden Komponisten widmet, musste man in diesem Frühjahr bedauerlicherweise auf den Komponisten zum Anfassen verzichten: Johannes Fritsch musste sich wegen einer schweren Erkrankung in die Klinik begeben. Vielleicht hat die bedrückende Nachricht den mitwirkenden Künstlern eine zusätzliche Energie verliehen: die Intensität der Aufführungen teilte sich fast körperlich-schmerzhaft mit.
Johannes Fritsch, 1941 in Bensheim-Auerbach geboren, hat mit einer ruhig-bestimmten Präsenz ein Werk geschaffen, dessen reiche Facettierungen eigentlich einmal eine Gesamtdarstellung verlangten. Der Einsatz der Kaiserslauterner Kulturverantwortlichen für Fritsch verdient deshalb alle Achtung (weshalb ihnen nach gebotener Frist auch die leidvolle Affäre mit dem Cellisten Siegfried Palm vergeben sei!). Den überwältigendsten Eindruck hinterließ bei der Fritsch-Hommage die Vokalartistin Isabeella Beumer, ein Sängerinnen-Typ, der sein Vorbild etwa in der unvergessenen Cathy Berberian gefunden haben mag, jedoch weniger nachahmend als die eigenen, individuellen Möglichkeiten entwickelnd. Vor 30 Jahren konzipierte Fritsch die Tonbandkomposition „Schnitte“, die als Schallplatte erschien. Nach dem Collagenprinzip werden darin eigene frühere Kompositionen mit Aufzeichnungen „verschnitten“, die in Japan 1970 bei der Weltausstellung entstanden. Überlagert wird der „Verschnitt“ durch Synthesizerklänge, durch die das musikalische Geschehen in einen eigentümlich fern und distanziert erscheinenden Klangraum versetzt wird.
Aus diesem Klangraum entwickelt sich nun das „Lied II“. Die Sängerin schneidet für sich gleichsam Materialien, Formeln, Strukturen, Partikel heraus, reflektiert und kommentiert die „Bruchstücke“, so dass im Live-Vollzug ein ganz eigenständiges, neues Stück entsteht, das in dieser Form nur einmal erklingt. Eine andere Aufführung würde zwangsläufig, quasi improvisatorisch, auch eine andere Version hervorbringen. Der Interpret spielt also in dem „Doppel“-Werk eine völlig autonome Rolle, schwingt sich zum ebenbürtigen „Schöpfer“ auf. Isabeella Beumer besitzt nicht nur die stimmartistischen Qualitäten für den Schöpfungsakt, sie legitimiert die Plausibilität des Vorgangs, der auf raffinierte Weise mit den verschiedenen Zeitebenen spielt, zugleich durch ihre starke Persönlichkeit.
Eine zweite Uraufführung ergab sich für das Konzert durch die Zusammenfügung von zwei bereits vorliegenden Kompositionen: die „Litanei II“ setzt sich zusammen aus der Version für einen sprechenden Flötisten (von Eberhard Blum 1999 in Stockholm uraufgeführt) und der Version für sprechenden Schlagzeuger (Mutsuko Aizawa in Köln).
Jetzt hat Fritsch beide Parts zu einer Duo-Fassung vereinigt, die von Blum und dem Perkussionisten Jonny Axelsson in Kaiserslautern vorgestellt wurde. Die Abstraktheit der gesprochenen Texte – Zitate und Bruchstücke aus dem Inhaltsverzeichnis einer Zeitschrift der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung St. Augustin – erscheinen durch die „Begegnung“ mit der Musik, ihren manchmal geradezu verführerischen melodischen Lineaments gleichsam versinnlicht und expressiv konterkariert. Der artifizielle Charakter der Komposition erscheint noch konzentrierter und verknappter in dem 1994 entstandenen Stück „VIII ’94“ für Altflöte und Tempelglocke, ein differenziertes Spielen und Jonglieren mit Tonhöhen und Tondauern.
Von dunkler Faszination dagegen das „Trio vom Ende“ aus dem Jahr 1992. Bass (Stephen Grant), Altflöte (Eberhard Blum) und Schlagzeug (Jonny Axelsson) kontrapunktieren, umkreisen, unterstreichen Textteile aus Becketts Stück „Damals“, das im Mittelteil des Triptychons, das Fritsch über das Schauspiel entwarf, sozusagen das Zentrum bildet. Eine wichtige Wiederbegegnung wenigstens mit dem Finalstück von Fritschs Werk.