Die Zeit, dass Kinderopern auf speziellen Festivals und kleinen Bühnen gespielt wurden, ist wohl endgültig vorbei. Ende November fand am Züricher Opernhaus die Uraufführung von Markus Felix Langes Gruseloper „Das Gespenst von Canterville“ statt. Für das Freiburger Theater hat Generalmusikdirektor Fabrice Bollon seine Familienoper „Oscar und die Dame in Rosa“ geschrieben, die am 5. Januar 2014 im Großen Haus erstmals zu erleben ist. Auch an der Stuttgarter Staatsoper (und den koproduzierenden Häusern Komische Oper Berlin und Welsh National Opera) nimmt man Genre und Zielgruppe ernst und setzt die Uraufführung der Familienoper „Peter Pan“ (ab 8 Jahren) von Richard Ayres (Libretto: Lavinia Greenlaw) in der Regie von Frank Hilbrich mit großem Aufwand in Szene.
Vor Vorstellungsbeginn ist es im Zuschauerbereich des Stuttgarter Opernhauses deutlich lauter als sonst. Die hellen Kinderstimmen mischen sich mit den hohen Bläsern aus dem Orchestergraben zu einem erwartungsfreudigen Summen. Das normale Premierenpublikum hat sich ebenfalls eingefunden, um die Abenteuer des Jungen, der nicht erwachsen werden wollte, zu verfolgen. Die Geschichte von James M. Barrie, die 1904 als fünfaktiges Theaterstück in London uraufgeführt wurde und die im englischen Sprachraum fast jedes Kind kennt, eignet sich in ihrer Mischung aus Realität und Fiktion, ihrem Kontrastreichtum und dem klaren Zuschnitt auf eine Hauptperson sehr gut für eine Opernadaption. Die Sehnsucht, ein Kind bleiben zu dürfen und in einem eigenen „Nimmerland“ zu leben, in der die rationale, durchstrukturierte Erwachsenenwelt keine Rolle spielt, hat viel poetische Kraft.
In Stuttgart ist sie auch musikalisch zu spüren, wenn Richard Ayres mit hohen Liegeklängen in den Streichern, warmen Dur-Terzen und weichen Trompeten die Enge, die die drei Kinder Wendy (Yuko Kakuta), Michael (Josefine Feiler) und John (Daniel Kluge) Darling zu Hause empfinden, weitet. Ihr spießiger Vater (Espen Fegran) kämpft dagegen verbissen mit seiner Krawatte und hält eine Moralpredigt. Unaufhörlich lässt der Komponist im Orchestergraben hier mit Hilfe von Woodblocks eine imaginäre Uhr ticken, die die genau getaktete Erwachsenenwelt im Hause Darling in Klang setzt. Als Peter Pan (Iestyn Morris) im großen Fenster des gelben Zimmers erscheint (Bühne und Kostüme: Duncan Hayler), ist die Erschütterung dieser Welt auch musikalisch zu spüren.
Regisseur Frank Hilbrich hat nach seinen psychologisch durchleuchteten, analytischen Wagner-Inszenierungen am Freiburger Theater in dieser Saison schon mit seiner „Csárdásfürstin“ gezeigt, dass er auch für das leichtere Fach ein gutes Händchen hat. Auch in „Peter Pan“ spielt Humor eine Rolle, wenn der Gute-Laune-Hund Nana (Mark Munkittrick), der gleichzeitig als Kindermädchen fungiert, mit wedelndem Schwanz über die Szenerie tapert oder die Autorität des Vaters durch seinen Auftritt in Unterhose untergraben wird. Peter Pan bekommt zwei Bungee-Seile angelegt, mit denen er durchs Zimmer und in die Herzen der drei rothaarigen Kinder fliegen kann. Der gemeinsame Flug nach Nimmerland kurz vor Ende des ersten Aktes ist, getragen von der schwebenden Musik Richard Ayres, großes Kino (Aerialdirector und Fight Choreography: Ran Arthur Braun).
Der englische Komponist findet überhaupt eine äußerst zugängliche Tonsprache, die manchmal in ihren Wiederholungsstrukturen und der hellen Timbrierung ein wenig an Janácék erinnert und Ayres verfügt zugleich über eine große stilistische Bandbreite, die immer der Theatralisierung des Stoffes dient. Das geht so weit, dass der nicht nur musikalisch bewegliche, sondern auch sportliche Countertenor Iestyn Morris immer wieder einzelne Töne im tiefen Brustregister singt, um den Stimmbruch des pubertierenden Knaben zu veranschaulichen – was auf die Dauer aber doch etwas ermüdend wirkt.
Die wärmsten gesanglichsten Linien schenkt der Komponist neben Peter Pan Mrs. Darling (präsent: Helene Schneiderman) und Wendy (kristallin: Yuko Kakuta). Aber die Musik Ayres’ kann auch, wie häufig im zweiten Akt, sehr rhythmisch und metallisch werden, wenn Peter Pan gegen den bösen Captain Hook kämpft oder die etwas farblosen und auch ein wenig unsauber singenden Lost Boys des Opernchores die gefangene Tiger Lily (Lindsay Ammann) befreien. Das Stuttgarter Staatsorchester klingt unter der Leitung von Roland Kluttig besonders im Blech fein und schwerelos. Nur in den Violinen lässt die Intonation in der hohen Lage zu wünschen übrig.
Nach der Pause ist bei den vielen Massenszenen das Orchester häufig zu laut. Auch die Koordination mit dem Chor hat noch Luft nach oben. Wie überhaupt der Premierenabend im Nimmerland-Akt ein wenig abfällt. Dem bösen Captain (Espen Fegran) fehlt die Schwärze und Durchschlagskraft. Seine Piraten sind mit Zottelbart und Beinhaartoupet ganz als Witzfiguren gezeichnet. Zwischen all den weißen Bällen, die Frank Hilbrich auf die Bühne bringt, verliert die Geschichte an Richtung und Spannung. Auch musikalisch wiederholt sich Ayres, anstatt einen ganz eigenen Klang für Nimmerland zu kreieren. Schließlich öffnet sich – das ist ein echter Knalleffekt – das riesige Maul eines Krokodils. Und Captain Cook verschwindet darin samt seinem Designerschiff. Am Ende kehren die Kinder zurück zu ihren verzweifelten Eltern, die inzwischen in Nanas Hundehütte wohnen. Und die Lost Boys tanzen Ringelrein.
Weitere Vorstellungen: 23.12.13., 5.1.14., 16.2., 5./10.4.14. Schulvorstellungen: 10./11./25.2.14, 28.3.14. Karten unter Tel. 0711/20 20 90 oder online unter www.oper-stuttgart.de