„Jekyll & Hyde“ – das ist nicht nur der Titel der berühmten Novelle von Robert Louis Stevenson und ihren diversen Filmversionen. Es ist auch der Titel des 1990 in Houston/ Texas uraufgeführten Musicals von Frank Wildhorn (*1958), das alsbald am New Yorker Broadway ganze vier Jahre (!) gespielt wurde. „Jekyll & Hyde“ sind zu einem Synonym für das geworden, was bei Georg Büchner der „Abgrund Mensch“ ist. Die dunkle Seite der menschlichen Natur, die potentiell in Jedem lauert. Wenn man es eher gesellschaftlich nimmt, auch dafür, dass es dem Menschen um die Ohren fliegen kann, wenn er dem Schöpfer ins Handwerk pfuscht. Oder, wissenschaftsethisch gesagt, dass jeder Eingriff in die Genstruktur (oder der Konsum von bewusstseinsverändernden Drogen) Folgen haben kann, die sich nicht abschätzen lassen.
Am Staatstheater Meiningen wird jetzt gemordet: Im Musical-Dauerbrenner „Jekyll & Hyde“ von Frank Wildhorn
Der Jekyll-&-Hyde-Plot ist also aktueller denn je. Und sein Fazit – hier wie dort – lautet: am besten den Geist gar nicht erst aus der berühmten Flasche lassen oder Finger weg von der Büchse der Pandora! Das ist nicht so ganz neu, aber durch die gruselige Personalisierung ziemlich (musical-)bühnentauglich.
Im Zentrum steht Dr. Henry Jekyll. Dem wird ein Antrag auf Bewilligung von Mitteln (bzw. eines lebenden Probanden) für seine Forschungen im Grenzbereich der menschlichen Psyche abgelehnt. Aus der Perspektive des Antragstellers wirken die Herren und die eine Dame der Kommission zwar borniert; nachvollziehbar sind ihre Gründe dennoch.
Zugleich steht seine Hochzeit mit Lisa Carew, der Tochter des Chefs der Kommission, bevor. In einer Mischung aus wissenschaftlichem Forscherdrang, jugendlicher Hitzköpfigkeit und allzu menschlich prickelnder Neugier auf die eigenen dunklen Seiten startet Jekyll schließlich in seinem Labor einen geheimen Selbstversuch. Er verwandelt sich erst dosiert und dann unkontrolliert in jenen Edward Hyde, der seine „Gegner“ aus der Kommission der Reihe nach umbringt.
Er bestückt also eine Musical-Schlachteplatte a la Stephen Sondheims „Swenney Todd“, wobei dort die Kunden des Barbiers gar zu Pastetenfüllungen werden ….
In Meiningen reden sich der musicalerfahrene Regisseur, Choreograf und als Jekylls Freund und Anwalt John Utterson mitspielende Cush Jung, seine Bühnenbildnerin Karin Fritz und Kostümbildner Sven Bindseil nicht auf eine boulevardeske Salonkomödie heraus, sondern nehmen die Sache tod- bzw. mordsernst. Imponierende Pfeiler, Portale, Nebelmaschinen und eine perfekt atmosphärische Lichtregie sorgen für Londoner Nebeldüsternis, die Kostüme für Zeitgeist und reichlich Rotlicht für anrüchiges Tabledance- und Bordell-Ambiente. Hier spreizen sich die spießigen Upperclass-Typen der Kommission (von Lord und Lady über General bis Bischof) und die proletarischen Underdogs. Der von Roman David Rothenaicher einstudierte Chor folgt mit Lust der Choreografie von Jung. Auch der dosierte SM-Look um die allemal lasziv auftrumpfende Lucy passt wohldosiert dazu. In dieser Rolle als Geliebter und Opfer von Hyde setzt Anna Langner als Gast den Standard als Musical-Allrounderin. Wobei sich im Duett von Lucy und Lisa auch Ensemblemitglied Sara-Maria Saalmann in der Rolle von Jekylls Braut als Musicalbegabung von Rang outet.
Komponist Frank Wildhorn gehört zu den Könnern einer Branche, die ihre Produkte deutlich brutaler dem Gegenwind des Marktes aussetzt, als es die Oper, die Operette oder die Musicalklassiker müssen. Mit seiner Entscheidung für ein Wildhorn-Musical ist Meiningen gleichwohl auf der sicheren Seite. „The Scarlet Pimpernel“, „Dracula“, „Rudolf“ oder „Der Graf von Monte Christo“ haben in unseren Breiten schon bestens funktioniert. Auch „Jekyll & Hyde“ bietet die genretypische musikalische Melange von baladesker Song-Romantik bis zum zackig hingerockten Chorparlando, die immer mal mit originellen Instrumentensoli aufgelockert wird.
Kens Lui und die Hofkapelle machen daraus einen süffigen Sound, der durchaus zündet. Natürlich ist es nicht das ganz große Show-Brimborium, das die Tempel der Musicalbranche (allerdings auch zu viel höheren Eintrittspreisen) ihren Fans bieten. Aber es funktioniert im Ganzen auch als sozusagen seriöse Musiktheaterversion ganz fabelhaft. Noch dazu, wenn man so ein spielfreudiges Ensemble und mit Florian Minnerop und Benjamin Sommerfeld als Doppelbesetzung für die Titelpartie mit den zwei Namen und Seiten gleich zwei wandlungsfähige Musicalprofis zur Verfügung hat. (In der besuchten Probe glänzte Benjamin Sommerfeld mit seinen hochprofessionellen Verwandlungen.) Wer den einen erlebt hat, der darf auch auf den anderen gespannt sein. Aus dem übrigen Ensemble gönnt die Regie auch Marianne Schechtel eine furiose Verwandlung. Am Tage im Habitus eine überkanditelte Lady Beaconsfield, beweist sie nachts als Nellie Format im Rotlicht-Milieu.
Am Ende ist man bei der Hochzeitsszene für Momente versucht, das Ganze für einen (Vorehe-Alp- oder Angst-)Traum zu halten. Oder umgekehrt – die Hochzeit für einen Wunschtraum eines Verlorenen? Wie auch immer: plötzlich wirkt die Verwandlung wie ein Anfall von selbst und wirft Jekyll zu Boden. Utterson gelingt es nicht, den verlorenen Freund zu erlösen. Der wirft sich mit letzter Kraft selbst in dessen Degen.
So geht der Abend als imponierendes Gesamtkunstwerk der makabren Art durchs Ziel.
Besetzung:
Musikalische Leitung: Kens Lui, Regie, Choreografie: Cusch Jung, Bühne: Karin Fritz, Kostüme: Sven Bindseil, Chor: Roman David Rothenaicher, Dramaturgie: Matthias Heilmann.
Mit: Anna Langner, Sara-Maria Saalmann/Monika Reinhard, Marianne Schechtel; Tarik Akman, Horst Arnold, Raphael Hering, Cusch Jung, Andreas Kalmbach, Steffen Köllner, Florian Minnerop/Benjamin Sommerfeld, Johannes Mooser/Tobias Glagau, Matthias Richter, Yannik Schiller, Shin Taniguchi, Silvio Wild, Sang-Seon Won • Chor und Statisterie des Staatstheaters Meiningen• Meininger Hofkapelle
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