Ihren Start machten die Mühlenbecker Klanglandschaften 2019. Nach der Absage im letzten Jahr gingen sie – noch immer durch die Pandemie eingeschränkt – als Format „en miniature“ in die zweite Runde. Eine ganze Woche waren Klanginstallationen in und um die Dorfkirche aufgebaut. Für das abschließende Festival-Wochenende war vieles geplant: bei einem groß angelegten Konzept mit Chor etwa sollten die Singenden gar aus dem Wald erklingen. Wie dieses mussten auch weitere Projekte entfallen – anderes rückte kurzfristig nach. So ergab sich dennoch eine bunte Zusammenstellung aus Vorträgen, Konzerten und experimentellen Klangerlebnissen.
Die letzten beiden Höhepunkte auf dem Programm bildeten ein Hörspaziergang mit dem Titel „Summt!“, konzipiert und angeleitet durch Enrico Stolzenburg, und das außergewöhnliche Abschlusskonzert „ausFLUG“, abgehalten in einem Dialog zwischen dem Klang-Trio aus Ute Wassermann, Sabine Vogel und Mazen Kerbaj und der umliegenden Natur.
Die Umwelt rückt in den Fokus. Nicht erst die jüngsten Begebenheiten um Flutkatastrophen und Waldbrände drängen dazu, sich mit der Natur in neuer Weise auseinanderzusetzen. Neben Naturwissenschaften und Technik widmen sich auch Künste und Geisteswissenschaften vermehrt Umweltthemen. So stellte sich bereits 2012 Alexander Rehding in einem Aufsatz mit dem gleichnamigen Titel der Frage „Brauchen wir eine Ökomusikwissenschaft?“ Rehding geht mit einer gewissen Süffisanz an die Sache, eröffnet schließlich jedoch Aussichten, das Feld fruchtbar zu machen, indem er etwa auf den musikhistorisch relevanten Topos der Natur verweist und dazu ermuntert, das Konzept Soundscape – gewissermaßen anachronistisch – auf ältere Kompositionen anzuwenden, wodurch sich mehr Forschungsmaterial sichten ließe, als zunächst erwartet. Jenseits dieser Gedanken tut sich eine weitere Entwicklung auf: Das Forschungsgebiet der Sound Studies bildet immer größere Schnittmengen mit Ausläufern der klassischen Musikwissenschaft, woraus sich allmählich ein Synergieeffekt abzuzeichnen scheint. Doch blicken wir vom Schreibtisch auf in die Natur selbst!
Dort wo es nur einen Bahnsteig gibt
Fährt man von Berlin mit der S8 gen Norden kommt man auch durchs Mühlenbecker Land und zu dessen Verwaltungssitz, dem Ortsteil Mühlenbeck. Der dortige Bahnhof ist wegen der großzügigen Taktung der Züge einer der wenigen deutschlandweit mit nur einem einzigen Bahnsteig. Mit einer Bevölkerung von etwas über 4000 Menschen wohnt hier im Schnitt eine Person auf der gleichen Fläche, wie in Berlin rund 18. Neben ein paar Siedlungen ist Mühlenbeck als Naturschutzgebiet besonders von Wäldern, Wiesen und Seen geprägt. Fährt man vom S-Bahnhof mit dem Bus noch weiter nördlich, gelangt man in den Siedlungsbereich Summt. Der dortige Summter See war Austragungsort für das Finale der 2. Mühlenbecker Klanglandschaften.
Hören zwischen Illusion und Wirklichkeit
An einem Parkplatz unweit der Bushaltestelle sind locker drei dutzend Menschen versammelt. Für den von Enrico Stolzenburg konzipierten Hörspaziergang stehen zahlreiche Lautsprecherboxen in Holzummantelung bereit, so dass etwa die Hälfte des Publikums sich eins der Kästchen greift und mit auf die Tour nimmt. Schon auf dem Weg zum Pfad in den Wald beginnen Motorgeräusche aus den Boxen zu erklingen, die sich mit denen der echten Autos auf der danebenliegenden Straße vermischen; beim Eintritt in den Wald schlagen die tragbaren Klangmacher in ein Plätschern um, das den Bach am Rande des Waldwegs imitiert und überdimensioniert verstärkt – so geht es den ganzen Weg.
Natur scheint plötzlich höchst artifiziell, jede ihrer Regungen performativ. Selbst die entgegenkommenden unbeteiligten Spaziergänger wirken inszeniert, wie sie sich in ihrem teils ablehnenden, teils irritierten Ausdruck am merkwürdig klangvollen Menschenhaufen vorbeidrücken. Alles verwebt sich. Kommt das Hundegebell vom Haus, an dem der Waldmarsch vorbeiführt? Spielt das überhaupt eine Rolle? Wäre es deswegen realer? – jetzt in diesem Moment. Flugzeugmotoren! Doch da ist nichts zu sehen. Dennoch verdecken die Baumkronen gerade so viel vom Himmel, dass absolute Gewissheit unmöglich ist. Gleich einer optischen vollzieht sich hier eine akustische Täuschung: Die Bewegung der Gruppe und der Klangerzeuger generiert eine oftmals willkürlich wirkende Verräumlichung, verzerrt so die Raumwahrnehmung – und mehr.
Synchronizitäten und Zusammenpralle
An den Tischtennisplatten angekommen klackert es aus den Lautsprechern, beschleunigt, verformt sich fast zum Minimal-Beat. Ohne Anweisung formt die Gruppe einen Kreis. Zusammenhänge entspinnen sich aus Ton und Bild – aus den Mienen derer, die gerade so synchron wie selten wahrnehmen. Aus den hellen Geklacker schält sich Froschgequake, Hufgetrappel. Vogelgezwitscher aus dem Wald und Krähen mischen sich dazu – halt, aus den Boxen? Plötzlich weiß man gar nicht mehr, ob überhaupt ein Ton je aus dem umliegenden Grün kam. Eins bleibt beständig: Wenn die Boxen verstummen, grollt der Donner nach. Der Himmel mischt sich ein und besteht aufs letzte Wort. Die Gruppe derweil synchronisiert Bewegungen und Habitus, fügt sich zusammen ohne wirklich zusammenzuwachsen. Der Außenstehenden skeptische, gar verschreckte Blicke und Gesten formen sie zur Einheit – ganz so wie die Wahrnehmung aus der Gruppe heraus alles andere zur Einheit verschmilzt. Ein Hauch Abenteuerlust liegt in der Luft: Man könnte das Gamification nennen, aber es ist schlichtweg das Gefühl, wie es Pfadfinder ereilt.
Auslichten und Erstarren
Angekommen an einer Lichtung, die als Badeplatz für den See dient, erlebt die soziale Spannung mit dem Umfeld ihren Scheitelpunkt: Die uneingeweihten Badegäste wissen nicht wie ihnen geschieht, als die Gruppe sich zwischen ihnen verteilt; doch der sanfte Schock pendelt sich ein und so werden Umstehende und Sitzende zum Publikum zweiten Grades. Die Nervosität bleibt unterschwellig als penetrantes Wespen-, ja Hornissensurren sich Bahn bricht, das schließlich gar in Kettensägen umschlägt. Was müssen sich die Bäume denken? Unerhört! Als wären Boxen hinter den Wolken versteckt, grummelt der Himmel, Donner grollt und dann tatsächlich ein sanfter Regenschauer. Nimmt der performative Akt die Realität vorweg oder eifert er ihr nach? Schafft er sie erst oder wird er durch sie geschaffen? Die Klänge auf der Schlussstrecke dichter und doch organisierter. Ist das Grillenzirpen oder ein Rasensprenkler? Laute morphen von Ziege zu Schaf zu Rind zu Krähe zu Hund – bald in rhythmischen Pattern, die über die Zeit langsam variieren. Glocken bimmeln, aber schriller als Kuhglocken. Ein Stimmen-Echo. Die letzten Schritte zum Zielort: Sind wir auf dem Weg mehr geworden? Oder weniger? Die spielerische Manipulation wirkt auf alle Sinne. Am Zielort angekommen wölbt sich der Schall über den See wie Wasserfälle. Klangliche Flutwellen über die ansonsten nun ausharrende Runde, erheben sich gleich Windböen, die zum Stürmen wirbeln. Da dringt sanfter Gesang durch das wilde Tönen, verbleibt allein, verklingt, verstummt. Es ist still.
Der Natur Klang
Die Pause geht schon eine Weile, da dringt Tröten durch das Schilf am See. Im Boot daher gerudert kommt das Trio, quietscht hoch und tief, gurgelt, legt am Ufer an, röhrt, knattert. Die Trompete von Mazen Kerbaj wird zur Wasserpfeife, zum Signalhorn, zur Sirene, zum Didgeridoo – der Ton aus ihrem Trichter wabert einen Schlauch entlang, fiept durch Gummi, blubbert in Wasser: Klänge schwer zu entschlüsseln, wie aus Tiefen des Urwalds. Sanfter Regen kaum spürbar tippelt, hüllt die Stimmung in tropischen Dunst. Trommeln, Pochen, Klopfen auf Klangobjekten aus der Natur geformt, ihr entliehen; ihr klingendes Potenzial wird erkundet, ausgeschöpft, denn im Grunde lässt sich alles spielen. Und alles lässt sich auch anders spielen: Die Flötentöne von Sabine Vogel wie aus hohlem Holz wandeln sich in den Höhen zu vokalisenhafter Archaik. Als Faszinosum entpuppt sich die Stimmkunst von Ute Wassermann, die einer schier endlosen Palette von Lauten einen ganzen Kosmos zu eröffnen vermag. Vom Stimmbandknattern über die reiche Palette an Trillern und Schillern mit der Vogelpfeife bis zum vokalen Glockenspiel – Wassermann beherrscht ihr außergewöhnliches Handwerk so brillant, dass hier Polyphonie aus einem einzelnen Mund zu kommen scheint.
Spiel der Natur
Mit Voranschreiten der Performance tritt mehr und mehr die Umwelt in Austausch: Gezwitscher aus den Wipfeln meldet sich, ein Eulenruf stimmt aus der Ferne mit ein. Fremdkörper bilden einzig noch die Gespräche aus umliegenden Zusammenkünften außer Sichtweite, die vielleicht nicht einmal gemerkt haben, dass hier ein Konzert stattfindet. Als sich die drei zum Schluss langsam zwischen den Bäumen verteilen, dahinter verschwinden, mit der Natur nun ganz verschmelzen, schneidet der anschließende Applaus seltsam befremdlich ein. Ein Gefühl als beklatschte man Wald und See – ein Hauch der Arroganz menschlicher Zivilisation. Und doch ist es jene, gegen die sich der Abend gerade nicht richtet. Statt der hohlen Forderung, man müsse einen tief in sich verborgenen natürlichen Urgrund freischaufeln, entdeckt man spielerisch die Vielschichtigkeit der eigenen Natur und setzt sich so neu ins Verhältnis zur umliegenden. Dabei neugierig, aber vorsichtig. Einfühlsam und unvoreingenommen, statt tumb und gefühllos. Diese Darbietung macht bewusst, was paradox klingen mag: Authentizität anzustreben macht uns eben nicht natürlich. Vielmehr müssen wir spielen, um uns der Natur anzunähern, uns tiefer in sie zu begeben. Denn was ist Spielen letztlich anderes, als sich in etwas oder jemanden hineinzuversetzen?