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Codes. Foto: © Dutch National Opera | Michel Schnater

Codes. Foto: © Dutch National Opera | Michel Schnater

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In Amsterdam stellte sich die Niederländische Oper mit ihrem 9. Forward Opera Festival der Zukunft der Oper

Vorspann / Teaser

Die Niederländische Nationaloper in Amsterdam bot auch in diesem Jahr wieder mit dem Forward Opera Festival etwas, bei dem sich Hinsehen und Hinhören allemal lohnt und das Nachmachen lohnen würde. Vom 14. bis 23. März widmete sich das wichtigste Opernhaus unserer Nachbarn zum mittlerweile 9. Mal mit einem besonderen Festival der Zukunft des Genres, inklusive von dessen Publikum. Aber nicht als esoterische Nabelschau, bei der vor allem Dramaturgen ihre Diskurse zelebrieren (und eines Dolmetschers in die Sprache des Publikums bedürfen). Sondern mit dem holländischen Pragmatismus, der das Genre Oper ohne bildungsbürgerliche Vorbehalte erst im späten 20. Jahrhundert wirklich im Lande etabliert hat. Und das machen die Holländer, wie man so schön sagt, niedrigschwellig. Adressiert an ein junges Publikum und bewusst auch an Zuschauer mit migrantischem Hintergrund.

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Den Kern des Festivals, um den sich viele kleine und genreoffene Veranstaltungen gruppierten, bildeten auch in diesem Jahr experimentelle Novitäten, die im „Het Muziektheater“, dem in den 80er Jahren in einem Komplex mit dem Rathaus errichteten Opernhaus an der Amstel, präsentiert wurden.

In den letzten Jahren gab es bei diesem Festival etwa die Orpheus-und-Eurydike-Version („Eurydice – Die Liebenden, blind“) des deutschen Komponisten Manfred Trojahn (2023). Oder im Jahr darauf die Opern-Version der „Farm der Tiere“ nach dem Bestseller von George Orwell. Ganz so repertoirekompatibel sind die drei aktuellen Produktionen zwar nicht, aber in ihrer Kombination folgen sie auf verschiedene Weise dem Anliegen des Festivals. Sowohl mit dem Blick auf gesellschaftliche Fragen der Gegenwart, als auch auf die formale und inhaltliche Zukunftsfähigkeit des Genres.

„We Are The Lucky Ones“

Dem klassischen Opernverständnis am nächsten kommt dabei „We Are The Lucky Ones“. Inhaltlich geht es in dieser hauptsächlich gesungenen Nummer-Collage mit großem Orchester um die sogenannten Babyboomer-Generation. „Codes“ ist eine Produktion, bei der Jugendliche auf der Bühne tanzen, singen, sprechen und nach den Ritualen suchen, die ihr Leben in der 750 Jahre alten Stadt ausmachen. Es ist als Geschenk zum Jubiläumsjahr an die Stadt deklariert. Wenn freilich im Saal der Funke überspringt, wird klar, dass es für die meisten vor allem ein Geschenk an sich selbst ist. Die dritte Produktion, „Oum“ ist ein bewusster Brückenschlag in einen anderen kulturellen Kontext. Ihr besonderer Reiz besteht in der formal und inhaltlich weitesten Entfernung vom mitteleuropäischen Opernverständnis.

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We are the lucky ones. Foto: © De Nationale Opera | Koen Broos

We are the lucky ones. Foto: © De Nationale Opera | Koen Broos

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Die Musik zu „We Are The Lucky Ones“ stammt vom britisch-deutschen Komponisten Philip Venables. Das Libretto haben Regisseur Ted Huffman und Nina Segal aus Interviews destilliert, die sie mit über 70 Westeuropäern geführt haben, die zwischen 1940 und 1949 geboren wurden, also Angehörigen, die man so ungefähr den Babyboomern zurechnen kann. Rausgekommen ist dabei so etwas Ähnliches wie das Durchblättern von Fotoalben. Vier Paare wechseln sich in 64 Gesangszenen, 5 Zwischenspielen und 8 Sprechszenen chronologisch geordnet mit ihren privaten Lebenserinnerungen ab. Zwischen festlich und Alltag gemischter Kleidung treten sie vor den eisernen Vorhang, können auch das Orchester umrunden. Die Szene bleibt so auf die Protagonisten, die Musik und die Worte fokussiert. Bassem Akiki und das Residentie Orkest (das zum Pool der niederländischen Orchester gehört, die die Oper bespielen) begleiten mit einem Sound, der zwischen Musik der Erinnerung, wilden Ausbrüchen und lyrischen Momenten wechselt, die vier durchweg exzellent singenden Protagonisten. Deren vitales Parlando bildet denn auch den Kern des Ganzen. Die von Eins bis Acht einfach durchnummerierten Protagonisten (Claron McFadden, Jacquelyn Stucker, Nina van Essen, Helena Rasker, Miles Mykkanen, Frederick Ballentine, Germán Olivera und Alex Rosen) machen ihre Sache durchweg fabelhaft.

Die Verbindung zum politischen Kontext der eingeblendeten Jahreszahlen muss sich jeder Zuschauer – natürlich abhängig vom eigenen Lebensalter – gleichsam selbst herstellen. Das ist musikalisch virtuos gemacht, bleibt aber doch eher eine an der Oberfläche surfende Zeitreise. Wenn etwa der Mauerfall nur als die individuelle Erfahrung einer Mutter vorkommt, die der Mann Richtung Westen verlassen hat. Oder, wenn ein Flugzeug eingeblendet wird, man unwillkürlich an 9/11 denkt und dann „nur“ von einer Urlaubsreise die Rede ist, die man sich gönnt, bleibt nur das Ausweichen in die eigene Erinnerungen. Auch wenn es gegen Ende mit fortschreitendem Alter nach dem Motto so wie die Zeiten heute sind, hatten wir uns die Zukunft nicht gedacht, immer melancholischer wird, Rat- und Antwortlosigkeit offenbar werden, verweist das die Zuschauer nicht nur an sich selbst, sondern auch auf den fehlenden Tiefgang dieser Selbstbefragung einer ganzen Generation.

„Codes“

Ein obendrein goldrichtig getimtes Stück der Antworten ist dagegen das von Gregory Caers mit 170 (!) Jugendlichen zur rhythmusbetonten Musik von Bas Gaakeer inszenierte Stück „Codes“. Er leitet auch die Bühnenband mit Synthesizer, E-Drums, Bassgitarre, Percussion u.a. Es ist faszinierend, wie hier die jungen Akteure einzeln und dann in kleinen und immer größer werdenden Gruppen nach ihren Bewegungs- und Ausdrucksritualen im Umgang mit unterschiedlichen Lebenssituationen suchen, dabei verschiedene Erfahrung machen und immer wieder in neue Bewegungsmuster übersetzten und dabei singen und auch sprechen (Texte von Gregory Caers und Jasmin von Wijnen). 

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Codes. Foto: © Dutch National Opera | Michel Schnater

Codes. Foto: © Dutch National Opera | Michel Schnater

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Man kann nur staunen, wie die Choreografen Ada Daniele und Shara Masskant es vermochten, eine solche Masse auf einer Bühne in ein Ensemble zu verwandeln, das mit seiner Kraft fasziniert – einzelnen ihren Auftritt verschafft und am Ende alle in den Bann zieht.

„Oum – A Son’s Quest for His Mother“

Auf besondere Weise funkelte „Oum – A Son’s Quest for His Mother“ der Komponistin Bushara El Turk im Festivalprogramm. Das Libretto von „Oum, Die Suche eines Sohnes nach seiner Mutter“ basiert auf dem Theaterstück „Un obus dans le coeur“ und Fragmenten aus dem Roman „Visage retrouvé“ von Wajdi Mouawad. Das Stück entstand in enger Zusammenarbeit der Komponisten mit Regisseurin Kenza Koutchoukali und Dramaturg Wout van Tongeren. Oum ist der Vorname von Oum Kalthoum (1904-1974). In der arabischen Welt (und bei den Arabern in der europäischen Diaspora) ist sie mit ihren Liedern auch heute noch offenbar eine allgegenwärtige Ikone der klassischen arabischen Musik, mit der Popularität eines Megastar. Eine Ahnung davon, worin die Suggestivkraft ihrer Musik besteht, bekommt man vor allem am Ende der anderthalb Stunden mit einer ausführlich zelebrierten Reverenz an diese Ikone arabischer Musik. 

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Oum. Foto: © Dutch National Opera | Bart Grietens

Oum. Foto: © Dutch National Opera | Bart Grietens

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Die Faszination erinnert an Wael Shawkys „Drama 1882“, das wie mit Zauberkraft Besucher der jüngsten Biennale in Venedig im ägyptischen Pavillon in den Bann zog. Die Geschichte des 19-jährigen Wahab (rezitiert von Schauspielerin Nadia Amin), der sich durch einen Schneesturm zu einer sterbenskranken Mutter aufmacht, wird da zum Vorspiel. Wobei auch das Andalusian Orchestra, das dem poetischen (englisch) gesprochenen und (arabisch) gesungenen Worten assistierte, seinen besonderen Reiz hatte. Vor die Premiere dieses Stücks hatten die Veranstalter zu einer Einführung mit gemeinsamem Fastenbrechen auch alle Nichtmuslime eingeladen.

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