Ein bei der Einreise nach Israel am Flughafen gestrandeter Humanist und Hebraist der Renaissance – ein den letzten Dingen sich zuwendender, tief gläubiger Komponist: Die in Stuttgart uraufgeführte, um Johannes Reuchlin kreisende Oper „wunderzaichen“ von Mark Andre hätte leicht Gefahr laufen können, eine spirituell verbrämte Kopfgeburt zu werden. Es kam anders.
„Ihr Name?“ Die eingangs von den Beamtinnen bei der Einreise gestellte Frage löst nicht bloß das mit „Handlung“ nur unzulänglich umschriebene Geschehen des knapp zweistündigen, pausenlos gespielten Musiktheaterwerks aus. Ihre beständige Wiederholung bohrt sich ins Innerste des Wortklangs hinein. Ein Wort, ein Name zumal – so die unmissverständliche Botschaft – ist mehr als eine willkürliche Lautfolge für das, was damit bezeichnet wird. Antworten heißt Klangfarbe bekennen.
Dass der Reisende Johannes Reuchlin heißt, erfahren wir erst in der zweiten der vier „Situationen“, in welche die Oper gegliedert ist. Zunächst stellt dieser sich am Schalter selbst infrage – das transplantierte Herz, das ihm ein zweites Leben ermöglicht, lässt ihn an seiner Identität zweifeln – und so macht er sich verdächtig. Im Untergeschoss des von Anna Viebrock ingeniös nachgebauten Ben Gurion Flughafens folgt die Befragung und Ablehnung. Johannes muss statt der erhofften Reise ins Heilige Land (dem historischen Reuchlin blieb sie verwehrt) eine andere letzte Reise antreten: das neue, fremde Herz versagt den Dienst. Von seiner sterblichen Hülle gelöst, betrachtet und reflektiert er in der letzten Szene den „Warteraum der Erinnerung“, bis der letzte Aufruf für seinen Flug ertönt.
Mark Andre und Dramaturg Patrick Hahn haben in das Textbuch mannigfaltige religiöse, mystische und philosophische Bezüge eingewoben. Reuchlins Forschungsgegenstand etwa, die Kabbala, ist unter anderem in den endlosen Aufzählungen des Flughafenpersonals präsent. Johannes nimmt, insbesondere in der Perspektive der ebenfalls gestrandeten Passagierin Maria (Magdalena), Züge Jesu an, während der Polizist sich in einen Erzengel verwandelt. Die Vorstellung des fremden Herzens als „Eindringling“ geht auf den französischen Philosophen Jean-Luc Nancy zurück.
Die stille Ironie der ganzen Konstellation an sich, aber auch vieler kleiner Details – so gilt beispielsweise eine der Aufzählungen den im Schnellrestaurant angebotenen Speisen samt Bestellnummern – verhindert dabei auf erstaunliche Weise, dass das Libretto von der Last seines intellektuellen Anspruchs erdrückt wird. Die feinsinnige Regie Jossi Wielers und Sergio Morabitos unterstreicht dies auf im bes-ten Sinne werkdienliche Weise. Eine konsequente und kluge Entscheidung war es außerdem, Reuchlin mit einem Schauspieler zu besetzen. Als Mann des Wortes ein entfernter Verwandter von Schönbergs Moses, erspart Andre ihm und uns jegliches bekennerhafte Deklamationspathos. André Jung, in Text- und Körpergestus gleichermaßen präzise, ist für diesen hellsichtig Gott Suchenden eine Idealbesetzung.
Ebenso komplex verwoben wie der Text, ist Andres Partitur. Auf einer Israelreise, einem „metaphysischen Road-trip“, den Patrick Hahn im Vorfeld dokumentiert hat, sammelte der Komponist und Klangarchäologe (ähnlich wie für „…üg…“, sein „into Istanbul“-Stück) „akustische Fotografien“, unter anderem von der Grabeskirche. In die Elektronik des SWR-Instrumentalstudios eingespeist (Realisation: Joachim Haas), laden diese Raumerinnerungen das live Gespielte und Gesungene mit weiterer Klangbedeutung auf.
Dabei versteht Andre diese, die Zuhörer vor allem in den rein elektronischen Zwischenspielen bisweilen ganz umhüllende, Anordnung nie als Überwältigungsmaschinerie. Vielmehr fokussiert sie das Hören noch genauer auf die, Helmut Lachenmanns „musique concrète instrumentale“ eigenständig weiterdenkende, oft auch auf der Bühne minutiös vorgenommene Tonerzeugung. Die vom Chor in der ersten Szene über Plastikmanschetten am Arm gestrichenen Bassbögen, die raschelnd beblasenen Alufolien und die Spielzeugwindräder sind nur der sichtbare Teil des ingeniös ineinandergreifenden Instrumentariums. Das kann aus dem Graben heraus ein unerbittliches, zwischenzeitlich auch mit Rhythmusstörungen behaftetes (Herz-)Klopfen entfachen, bis es, knapp und zwingend gesteigert, auf den Infarkt zusteuert. Oder es kann aus tiefsten Klavierregionen heraus Obertonspektren auffächern, die sich nach und nach im Raum verselbstständigen und verflüchtigen.
Die menschliche Stimme, atmend, flüsternd, in sich hineinsummend und nur selten – mit entsprechend gesteigerter Wirkung etwa in der von Claudia Barainsky bravourös bewältigten Maria-Partie – komplett aussingend, fügt sich einerseits als weiterer Klangerzeuger in dieses Spektrum ein. Andererseits transzendiert sie das instrumental Konkrete in jenen mystischen Raum, in den Andre uns mit großer Achtsamkeit und ohne den Gestus eines Bekehrers hineinzuführen versteht. Die chorischen Stimmverläufe (24 überragende Solisten aus dem Stuttgarter Staatsopernchor) überwölben am Ende eine harmonisch komplex geschichtete Konstellation, die sich dabei aber auf ebenso wundersame wie plausible Weise auf Grundton, Quarte und Quinte reduzieren lässt. Ohne minimalistisch einzulullen, überführt sie unsere „Entgegennahme durch das Hören“ (Reuchlin über die Kabbala) in eine vorläufige Zielregion, deren weitere Ausdehnung wir nur erahnen können. Möglich machte diese Erfahrung eine in ihrer Präzision und Sorgfalt exemplarische Umsetzung durch das gesamte Produktionsteam, zusammengehalten von einem hörbar enthusiasmierten Sylvain Cambreling. Er führte das Ensemble (ausgezeichnet in weiteren Rollen: Matthias Klink, Kora Pavelic und Maria Theresa Ullrich), das mit beeindruckender Sorgfalt agierende Staatsorchester und den fantastischen Chor souverän disponierend durch Mark Andres lange nachhallende Klangfelder. Großer Jubel für einen großen Uraufführungsabend in Stuttgart.