Nicht „Faust“ oder gar „Margarethe“ – „Mephisto“ müsste sie heißen! Jedenfalls, wenn die Gounod-Oper so diabolisch daherkommt wie jetzt in Leipzig. Zur bevorstehenden 1000-Jahr-Feier widmet man sich dort einem zentralen Thema der Stadtgeschichte.
Leipzig und Goethe, das ist offenbar doch etwas mehr als nur Auerbachs Keller und Klein-Paris. Leipzig und Goethe, das kann auch Gounod sein, Charles Gounod mit seiner 1859 uraufgeführten Oper „Faust“, die oft auch „Margarethe“, inzwischen zumeist klammernd „Faust (Margarethe)“ genannt wird.
Da sich Leipzig derzeit auf die 1000-Jahr-Feier der ersten Erwähnung des einst lindenreichen Anwesens vorbereitet, gab es am Opernhaus jetzt schon mal einstimmend das Goethe-Gounod-Gesamtpaket. Zum Spielzeitauftakt etwas französisches Flair, das kann auch an der Pleiße nicht schaden, mag man sich da gedacht haben – und behielt Recht. Das Publikum war von der Premiere sehr angetan. Schließlich wurde ihm in knapp dreieinhalb Stunden einiges an Opulenz serviert, das inszenatorisch nicht weh tat, dennoch nicht allzu beliebig verfing, vor allem aber zum musikalisch überzeugenden Klangfest geriet.
Den Dank dafür heimsten nicht erst beim Schlussapplaus, sondern bereits nach diversen sehr gelungenen Szenen das Gewandhausorchester und Dirigent Anthony Bramall sowie Chor und Solisten der Oper ein. Der stellvertretende Generalmusikdirektor des Hauses führte äußerst ambitioniert durch die Partitur, ließ auch die Ohrwürmer opulent als Ohrwürmer ertönen, legte aber vor allem großen Wert auf feinste Differenzierungen. Der Streicherapparat hauchte mitunter bis zum Verschwinden zart aus dem Graben, vor allem die Holzbläser unterstrichen das Geschehen auf der Bühne mit geradezu kammermusikalischer Sensibilität.
Und oben, im Einheitsbild auf der beinahe unumwunden rotierenden Bühne? Da bestachen vor allem Mirko Roschkowski in der Titelpartie sowie Olena Tokar als Margarethe und Tuomas Pursio als Mephistopheles. Hier der strahlende Tenor, dem auch das Liebesschmachten des plötzlich wieder jungen Grüblers gelang, da die erst zurückhaltende, dann jungfräulich hingabevolle und zuletzt in den Wahnsinn getriebene Sopranistin mit ihrer das Innerste nach Außen kehrenden Stimme, und dort der kraftstrotzende, von Selbstzweifeln absolut freie Bariton des Teufels aller bösen Mächte. Stimmlich und spielerisch mit psychologisch überzeugender Detailfülle gab Kathrin Göring einen ergreifenden Siebel. Als ebenso erschrockene wie rasch wieder geile Witwe Marthe war Karin Lovelius hingebungsvoll bis an die Grenzen der Lustbarkeit und darüber hinaus.
Theatertricks und Feuerzauber
Man hätte den Abend also auch mit geschlossenen Augen genießen können. Ignorante Naturen sollen dazu ja in der Lage sein. Dann hätte man zwar großartige Interpretationen erlebt, aber zahlreiche inszenatorisch versuchte Ablenkungsmanöver verpasst. Denn es war keineswegs so, dass Regisseur und Bühnenbildner Michiel Dijkema mit seiner Kostümbildnerin Claudia Damm ausnahmslos großartige Szenen gelangen. Mit viel zu vielen Drehungen der Bühne sowie einem immensen Aufgebot an Personage lenkte er manchmal auch nur von einfallslosen Standbildern ab. Das scheint aber insofern entschuldbar, als seine Inszenierung insgesamt trägt und besticht.
Überzeichnungen freilich gab es auch. Denn warum soll eine gläubige Jungfrau in rauschende Dornröschen-Kleider schlüpfen, solange sie doch den von Goethe und seinen französischen Nachdichtern versprochenen Schmuck trägt? Und aus welchem Grund zischt allenthalben eine Flamme aus dem Bühnenboden hervor, aus Sessel und Sarg, aus Kruzifix und Gitarre? Dass der ganz in Rot gekleidete Höllenmeister in seinem ewigen Widerstreit ein feuriger Kerl ist, hat man auch ohne Theatertricks rasch bemerkt. Frau Marthe bekommt es sogar hautnah zu spüren, als eine Flamme aus ihrem Schloss schlägt.
Alle Szenen spielen in der Kulisse einer bühnenfüllenden Gründerzeitarchitektur, in deren Backsteingemäuer riesige Stahltore aufgerollt werden und niederfahren. Darin wird es nicht industriell, sondern durchaus intim, etwa in Faustens Studierstube mit abenteuerlich theatral getürmten Bücherstapeln. Gartenszene und Gretchens Schlafstatt gelingen mit wenigen Details aber ebenso, da genügen eine Bank, ein himmelblaues Bettchen, da blühen die Blumen, die dem verliebten Siebel bei jedem Zugreifen verwelken, da steht später die Zinkbadewanne, in der die Frucht der Liebe von Faust und Margarethe ertränkt wird.
Sind alle Tore geöffnet, finden sich komparsenreich Anleihen an (nicht nur Leipziger) Völkerschlachten. Haufenweise zieht das Kanonenfutter zu Felde, nur etwa ein Drittel der willigen Kämpen kommt geschunden daraus zurück. Neben den Gesangsleistungen von Chor und Extrachor (Einstudierung Alessandro Zuppardo) stechen dessen individuell geführte Rollen hervor. Jonathan Michie als rächender Bruder Valentin rennt mit baritonalem Furor gegen das Teufelswerk an, vergeblich.
Nochmal: Die Bewegtheit der Bühnenmaschinerie sorgt für mancherlei Blickfang und bietet starke Effekte, übertüncht jedoch einige handwerkliche Leerräume der Personenregie. Wirklich bewegend sind apokalyptische Szenen, die selbst in der mitunter etwas plakativen Düsternis ergreifen. Der Wahnsinn Gretchens, ein Krieg im Kleinen, geht ähnlich zu Herzen wie der im Großen auf dem Schlachtfeld. Wenn man den Teufel ruft, kommt er. Und hat laut lachend das letzte Wort. Natürlich im Feuer.
Termine: 25. Oktober und 2., 9., 16. November 2014, 8., 10. Januar, 4. Juni 2015