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„Achtung, Ungeheuer!“ Das Hirtenensemble der „Dafne“ (Fotograf: Ronald Bonss)

„Achtung, Ungeheuer!“ Das Hirtenensemble der „Dafne“ (Fotograf: Ronald Bonss)

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Apollo als abschreckendes Beispiel. Heinrich Schütz „Dafne“ wird als Rekonstruktion in Dresden wieder lebendig

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Für eine Fürstenhochzeit in Sachsen schrieb Heinrich Schütz 1627 seine „Tragicomedia von der Dafne“. Sie gilt als die erste deutsche Oper überhaupt, doch die Musik ist verschollen. Einen Rekonstruktionsversuch hat der Schütz Experte Roland Wilson 2022 erstmals in Eichstätt vorgestellt. Jetzt war er in Dresden beim Heinrich-Schütz-Musikfest zu erleben.

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Von 1617 bis zu seinem Tod 1672 trug Heinrich Schütz den Titel des kurfürstlichen-sächsischen Hofkapellmeisters; jahrzehntelang wohnte er gegenüber der Dresdner Frauenkirche; die Grabinschrift nannte ihn den „hervorragendsten Musiker seines Jahrhunderts“. Die Stadt Dresden hat ihr Konservatorium und eine Grundschule nach Schütz benannt; an der Stelle des zerstörten Wohnhauses steht die Heinrich-Schütz-Residenz; sein Dienstort, die lutherische Kapelle des Residenzschlosses, ist zumindest teilweise wiederhergestellt. Das Interesse der Dresdner Publikums an seiner Musik aber hält sich aber sichtlich in Grenzen – selbst da, wo es nicht um kirchlich gebundene Musik geht.

Wohl gut die Hälfte der Plätze ist besetzt, als im kleinen Schlosshof des Residenzschlosses ein Höhepunkt des mitteldeutschen Heinrich-Schütz-Musikfestes über die Bühne geht. Während, quasi nebenan, in der Semperoper Giacomo Puccinis „Turandot“ gespielt wird, stellt der (aus England stammende) Alte-Musik-Experte, Zinkenist und Dirigent Roland Wilson mit dem Vokalensemble La Capella Ducale und den Instrumentalisten der Musica Fiata Köln seinen Rekonstruktionsversuch der „Tragicomedia von der Dafne“ vor – jenes Stückes also, das Schütz 1627 bei der Torgauer Fürstenhochzeit aufführte und das als die erste deutsche Oper überhaupt gilt. Die Noten dazu sind verschollen oder zerstört. Einzig das Libretto von Martin Opitz ist erhalten.

Opitz galt, seit er 1624 das „Buch von der deutschen Poeterey“ veröffentlicht hatte, als einer der führenden deutschen Dichter. Schütz, der daran interessiert war, die in Italien erfolgreiche Gattung Oper in Deutschland zu etablieren, erbat von Opitz eine deutsche Bearbeitung des „Dafne“-Librettos von Ottavio Rinuccini, das 1598 von Jacopo Peri und 1608 von Marco da Gagliano vertont worden war. Das fertiggestellte Werk erklang am 13.4.1627 auf Schloss Hartenfels bei Torgau im Rahmen der Feierlichkeiten zur Hochzeit der sächsischen Prinzessin Sophia Eleonore mit Landgraf Georg II. von Hessen-Darmstadt. Dass das künstlerische Experiment des kurfürstlich-sächsischen Hofkapellmeisters keine Wellen schlug und die Partitur verloren gehen konnte, ist begreiflich. Die Uraufführung war nur eine von zahlreichen Festveranstaltungen, in den Wirren des sich zuspitzenden Dreißigjährigen Krieges gab es fortan nicht viel Potential für fürstliche Repräsentation, und bis zur Etablierung eines ersten bürgerlichen Opernhauses in Hamburg dauerte es sogar bis 1678.

Rekonstruktion der Rekonstruktion

Man fragt sich natürlich, wie sich „Dafne“ rekonstruieren lässt. Zur Erstaufführung der Rekonstruktion im beim Musikfest Eichstätt Schütz-Jahr 2022 und im Beiheft der in diesem Zusammenhang entstandenen CD hat Roland Wilson einige Hinweise gegeben. Und als vor der Aufführung im Kleinen Schlosshof ihm und seinen beiden Ensembles der Internationale Heinrich-Schütz-Preis 2023 verliehen wird, sagt er selbst, die Aufgabe habe ihn während des Corona-Lockdowns beschäftigt wie ein schwieriges Sudoku-Rätsel. Ungefähr zur Hälfte griff er auf passende Kompositionen von Schütz zurück, denen er Verse aus Opitz’ Libretto unterlegen konnte; er nennt die Monteverdi-Bearbeitung „Güldne Haare“, das Madrigal „Liebster, sagt in süßem Schmerzen“ und das Generalbasslied „Mit dem Amphion zwar meine Orgel und mein Harf“. Die Rezitative übernahm er im wesentlichen aus da Gaglianos „Dafne“ und passte sie dem deutschen Text an. Für den Rest griff er zurück auf Schütz’ Netzwerk aus der Dresdner Hofkapelle und den italienischen Kollegen, denen dieser bei seiner Italien-Reise begegnet war. Verwendung fanden also zwei „teutsche Villanellen“ des Lautenisten und Schütz-Schülers Johan Nauwach aus einer Sammlung, die dieser selbst zur Torgauer Fürstenhochzeit beigetragen und zu der Schütz das Schlussstück komponiert hatte. Die instrumentalen Ritornelle übernahm Wilson von dem Violin-Virtuosen Biagio Marini und das Lamento der Dafne von dem Gabrieli-Schüler Alessandro Grandi. Es wäre interessant, einen genauen Werkstattbericht dieses Rekonstruktionsversuchs zu lesen.

Das Resultat ist, um den Bearbeiter selbst zu zitieren, nicht „dieselbe Musik“ wie im Original, aber „die gleiche“ im Sinne von „vergleichbar“. Die 2022 rekonstruierte „Dafne“ klingt tatsächlich nach Schütz und seinen italienischen Vorbildern, und sie bewährt sich als lebendige und kontrastreiche Vertonung des Opitz-Librettos. Die Instrumentalbesetzung besteht aus zwei Violinen (im Wechsel mit der Viola), zwei Gamben (im Wechsel mit der höher gestimmten Lirone), zwei Zinken (im Wechsel mit der Blockflöte), drei Posaunen, einem Fagott (im Wechsel mit einer Pommer), zwei Chitaronnen, einer Doppelharfe und einem Tasteninstrument (im Wechsel Orgel, Cembalo und Regal). Das ergibt eine reiche Palette von Klangfarben, die düstere Bedrohung und fröhliche Ausgelassenheit, intensives Verliebtsein und andächtiges Flehen auszudrücken verstehen.

Opitz’ Szenario folgt dem antiken Dichter Ovid: Demnach hat der griechische Gott Apollo den Liebesgott Cupido, Sohn der Venus, als schlechten Schützen verspottet. Cupido rächt sich dafür, indem er zwei Pfeile abschießt: Einen, der Apollo in Liebe zur schönen Nymphe Dafne entbrennen lässt, und einen, der Dafne mit unüberwindlicher Abneigung gegen Apollo ausstattet. Apollo verfolgt Dafne mit seiner Zuneigung und seinem Begehren, bis sie ihren Vater, den Flussgott Peneus, um eine Verwandlung bittet. Sie wird zum Lorbeerbaum. Apollo aber trägt seitdem zu ihrem Gedenken den Lorbeer als Attribut auf dem Kopf oder an seiner Kithara. – Als Sujet einer Hochzeitsoper erscheint dieser Stoff in der Tat ein wenig problematisch. Unter dem Stichwort #SUPPORTDAFNE ruft der Mitteldeutsche Rundfunk sogar Schülerinnen und Schüler ab Klasse 9 dazu auf, bis 2024 für „Dafne“ ein neues Ende zu verfassen, denn „vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftspolitischer Debatten wirkt der zugrundeliegende Mythos weit überholt“. Möglicherweise hat die MDR-Redaktion übersehen, dass Opitz und Schütz im Prolog ihrer Oper den Dichter Ovid auftreten lassen. Er kündigt ein abschreckendes Beispiel an und schließt mit den Worten: „Der uns allen gibt das Licht, sieht vor Liebe selber nicht.“ (Was sich gegebenenfalls auch auf jagdliebende Fürsten übertragen ließ, die vor männlichen Übergriffen nicht zurückschreckten.)

„Tragikomödie“ heißt das Stück mit Recht, denn dem tragischen Geschehen zwischen Apollo und Dafne stehen die witzigen Dialoge Cupidos mit Apollo und seiner Mutter Venus gegenüber. Zwischen den beiden atmosphärischen Polen vermitteln die Gesänge der Hirten, die dramaturgisch eine ähnlich prominente Rolle spielen wie in Monteverdis „Orfeo“, den Schütz nachweislich gekannt hat. Wie funktioniert dieses Szenario nun auf dem überdachten Kleinen Schlosshof? Die Wahl des Aufführungsortes ist gut nachvollziehbar – wegen des fürstlichen Ambientes, der Nähe zu Schütz’ einstiger Wohnung und Wirkungsstätte und des für Alte Musik geeigneten intimen Rahmens. Leider sind die Zuschauerplätze ebenerdig statt ansteigend angeordnet, und so sieht man weiter hinten nicht viel. Was als „halbszenisch“ angekündigt ist, kommt allenfalls „viertelszenisch“ an; man spürt die theatralische Vitalität auf dem Podium, verpasst aber die reizvollen Details. Einzig die schöne Eingangsszene, in dem Apollo als Echo aus der Galerie die Hilferufe der Hirten vor dem sie bedrohenden Ungeheuer beantwortet, schlägt in ihrer Wirksamkeit unmittelbar durch.

Leider erweist sich auch die Akustik als ausgesprochen hallig. Immer wieder verschwimmt der Bläserklang ein wenig zu sehr. Vor allem aber sind die Singstimmen, die sich durchaus um deutliche Artikulation bemühen, oft kaum zu verstehen. Da, wo eine expressive Linie ihrem Höhepunkt zustrebt, sind auch die Worte erkennbar, und auch da, wo tänzerischer Rhythmus einen Akzent setzt. Doch sobald sich die Singenden zurücknehmen, werden sie von den Instrumenten übertönt.

Und leider hat das Publikum zwar das Libretto in der Hand, kann aber im Halbdunkel nicht wirklich mitlesen. Möglicherweise hätten Wilson und seine beiden Ensembles sich besser auf die Akustik einstellen können, wäre nicht Marie Luise Wernburg in der Titelrolle ausgefallen. Bis kurz vor Beginn wird Dorothea Wagner als Einspringerin eingearbeitet. Mit den Noten in der Hand löst sie ihre schwierige Aufgabe als Apollos Widerpart sehr gut. Den Apollo spielt Tobias Hunger ausgezeichnet; deutlich zeichnet er den Wandel vom selbstbewussten Charmeur zum unglücklich Liebenden. Wie Dafne ihn mit einer Geste abwehrt und sich beide dann Rücken an Rücken miteinander verbinden, erscheint aus der Distanz als plausible szenische Lösung für die heikle Verwandlungsszene. Johannes Gaubitz gibt im Prolog den seriösen Dichter und reiht sich dann unter die munteren Hirten (David Erler und Joachim Höchbauer) ein. Auch Venus (Constanze Backes) und Cupido (Juliane Schubert) schlüpfen in ihren Spielpausen ins Hirtenkostüm und lassen es überhaupt an komödiantischer Spielfreude nicht fehlen. Musikalisch-stilistisch und in der darstellerischen Präsenz wirkt diese „Dafne“ rundum überzeugend. Auf Folgeaufführungen andernorts mit besserer Sicht und Akustik möchte man hoffen.

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