Wenn man schon in der Manier von Theatermagier Jürgen Gosch, die Akteure, die gerade nicht dran sind, meistens auf der Bühne belässt, dann muss man sich zu der Methode bekennen und auch den entsprechenden Rahmen dafür finden. Bei Händels 25. Oper ist der Plot aber auch vertrackt. Musikalisch dagegen ist alles im Lot. Dass vor allem Orliński für jede seiner Arien gleich an Ort und Stelle gefeiert wurde, war klar, sagt unser Kritiker Joachim Lange.
Bei vielen Händelopern finden die Regisseure längst einen gewitzten Zugang, der sich krude Librettoverwicklungen zunutze zu machen versteht. Für den Schub, den die Händelrenaissance in den Münchner Jahren der Intendanz von Sir Peter Jonas erhielt, war das das Markenzeichen. Ein Beispiel dafür, wie sich quicklebendiges Musiktheater aus einer barocken Vorlage machen lässt, hatte Max Emanuel Cencic im letzten Jahr in Karlsruhe mit seinem jetzt wieder aufgenommenen „Serse“ bewiesen. So wie er barocke Opulenz im Las-Vegas-Stil entfaltete reimt sich Barock szenisch auf Rock. Auf der anderen Seite gibt es immer mal wieder Versuche, historische Aufführungspraktiken bis hin zum Rampensingen im Schein von echten oder metaphorischen Wachskerzen zu reaktivieren. Mit „Riccardo Primo“ schlug sich Benjamin Lazar 2014 in Karlsruhe auf die Seite einer historisierenden Opulenz.
Das Problem bei dem ausgesprochen handlungsarmen und in der Grundstimmung vor allem traurigen Fünf-Personen-Kammerspiel „Tolomeo“ besteht darin, dass er sich diesmal an einer Melange aus beiden Zugängen versuchte, die sich aber nicht beflügelten, sondern gegenseitig ausbremsten.
Da gibt es einerseits die unbeeinträchtigte Präsentation des reichlich vertretenen melodischen Wohlklangs der etwa zwei Dutzend Arien. Händel hatte 1728 für seine Uraufführung in London mit dem Kastratenstar Senesino, Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni das Beste vom Besten zur Verfügung. Jeder wollte da seine Virtuosität bejubeln lassen. Also gibt es für den Counter-Shootingstar von heute, den 29-jährigen Polen Jakub Józef Orliński in der Titelpartie und seine Crew erstmal einen ziemlich beruhigenden Einheitsbühnenraum. Adeline Caron hat die gesamte Bühnenbreite in einen großen Salon mit komfortablem Meeresblick durch riesige Fenster gefüllt und die Spielfläche nach vorn geholt. Hier ist das spärliche Interieur zunächst mit einem Tuch bedeckt. Das dient als Projektionsfläche einer ruhigen Meeresoberfläche und verschwindet dann in einem Becken in der Mitte des Raumes. Ein handgemachter dezenter Einfall, der freilich ohne weitere Folgen bleibt.
Über dieses Becken tritt dann zwar auch einmal die totgeglaubte Geliebte des Titelhelden wie ein Zombie auf, aber das bleibt alles eher beiläufig. Dass hinter den grauen Wolken auch mal die Sonne untergeht und sich der Meeresspiegel dezent der Stimmungslage der naturlyrikaffinen Arien entsprechend mehr oder weniger kräuselt oder wenn es ernst wird sogar schäumt, bleibt ein für sich gut gemachtes (Videos: Yann Chapotel), aber unauffälliges Dekor im Hintergrund. Zu einer vom Librettisten Niccolò Francesco Haym gedichteten Felsen-Metapher schieben sich tatsächlich Felsen ins Bild. Auf pastellenen Surrealismus schaltet die Bühne um, wenn vor den Fenstern erst die Flut steigt und dann ein fantasievoller Unterwasser-Zauberwald auftaucht, während drinnen leuchtende Quallen wie Lampen von der Decke hängen. Ein hübsch anzusehender Einfall, der aber dem Rumstehtheater auch kein Leben einhaucht. Wenn man schon in der Manier von Theatermagier Jürgen Gosch, die Akteure, die gerade nicht dran sind, meistens auf der Bühne belässt, dann muss man sich zu der Methode bekennen und auch den entsprechenden Rahmen dafür finden. Hier wirkt das Ganze wie eine Verlegenheit, die eher unterläuft, als dass sie etwas bedeutet.
Vertrackter Plot
Allerdings – das muss zur Entlastung der Regie gesagt sein – ist der Plot von Händels 25. Oper auch noch vertrackter als damals ohnehin üblich. Der Held ist als ägyptischer Prinz in der Fremde auf Zypern gestrandet. Seines Throns und seiner Geliebten beraubt. Den Thron, der ihm als Erstgeborenem zusteht, hat seine hinterlistige Mutter Cleopatra (nicht die, die wir von Cäsar kennen) ihrem Lieblingssohn Alessandro zugeschustert. Seine Geliebte Seleuce glaubt Tolomeo tot. Und dann ist auch noch Elisa, die Schwester des Königs an dessen Küste er gestrandet ist, auf den Trauernden scharf. Aller Wahrscheinlichkeit im wirklichen Leben zum Trotz lebt seine Seleuce aber inkognito auch auf der Insel und wird ihrerseits vom König Araspe begehrt. Um das Maß voll zu machen, darf Tolomeo anstelle seines Selbstmordes den (o Wunder!) just an dieser Küste schiffbrüchig gewordenen eigenen Bruder Alessandro aus dem Wasser (und damit zum Glück auch auf seine Seite!) ziehen. Der chinesische Counter Meili Li hat in der Rolle freilich kaum Gelegenheit neben seiner sicheren, jedoch etwas einfarbigen Stimme auch darstellerisch etwas zu bieten. Dass der wiederum erfolglos auf die königliche Schwester Elisa abfährt, versteht sich da schon von selbst.
Es geht also in den Arien um Todessehnsucht oder um Begehren nach dem oder der, der oder die sich verweigert. Araspe und seine Schwester erweisen sich dabei als extrem skrupellos und übergriffig. Sie haben die Macht und nutzen sie. Bassbariton Morgan Pearse macht aus Araspe mit einiger Vehemenz einen eifersüchtigen Wüterich, während sich Eléonore Pancrazi mit Erfolg und dramatischer Verve um eine giftig übergriffige Elisa bemüht.
Aber die ägyptischen Brüder halten zusammen und das Gift in dem Pokal, der für Tolomeo bereit stand und den er bewusst leert (lieber tot als mit der falschen Frau im Bett, soll das heißen) war (noch ein Wunder!) nur ein Schlafmittel. Das lieto fine mit dem Tolomeo zum Bruder auch den Thron und die Geliebte zurückerhält und für die übergriffigen Gastgeber Gnade vor Recht ergeht, wirkt dennoch noch unglaubwürdiger und aufgesetzter, als das in Barockopern zumeist der Fall ist. Lazar sucht die szenische Auseinandersetzung damit gar nicht erst.
Musikalisch halten Federico Maria Sardelli und die Deutschen Händel-Solisten im Graben wacker dagegen. Dass hier die Bravour-Knaller fehlen, die den Saal toben lassen, dafür können sie nichts. Die lyrische Geschmeidigkeit für die Arien, auch das gelegentliche Dräuen, wenn sich eine Chance dafür bietet, liefern sie jedenfalls. Und sie sind einfühlsam bei gleich zwei der bei Händel seltenen Duette zwischen Tolomeo und Seleuce. Da verbinden sich dann auch Orlinskis kraftvoller und wohltimbrierter Counter und der Sopran von der auf Leiden gestimmten Louise Kemény auf betörende Weise. Dass vor allem Orliński für jede seiner Arien gleich an Ort und Stelle gefeiert wurde, war klar. Auch wenn die Regie und sein alltagsziviles Kostüm nicht allzu viel daraus machten, ist sein Talent, der Ausnahmestimme auch ein natürliches Spiel hinzuzufügen, nicht zu übersehen. Auch bei diesem Counter hatte Karlsruhe das richtige Gespür! Vor allem seinetwegen lohnt dieser „Tolomeo“. Als ruhig zelebrierter Festspielbeitrag neben einer knalligen „Serse“-Show mag das angehen. Auf einen Platz im Repertoire wird es „Tolomeo“ wohl nicht schaffen. Der allgemeine Beifall für die Interpreten war diesmal mit einigen Buhs für die Regie gewürzt.